Eine Rezension von Kathrin Chod

 

„Die Gewalt der Geschwindigkeit“

Stefan Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815-1945 Stufen telemedialer Rüstung.

Wilhelm Fink Verlag, München 1996, 407 S.

 

Ein „größtes Medienereignis aller Zeiten“ jagt das nächste. War es gestern noch der Golfkrieg, sind es heute Tod und Abschied von einer adligen Jet-Set-Millionärin. Der Machtwechsel in Rumänien 1989: Vor den Augen des ganzen Volkes, ja aller Fernsehzuschauer der Welt, wird ein System gestürzt. Live über alle Bildschirme kann man sehen, wie Menschen sterben. Was immer auch irgendwo in der Welt passiert, CNN oder ein anderer Fernsehsender ist dabei und überträgt das Ereignis in alle Wohnstuben. Der italienische Philosoph Paul Virilio sieht den Halbkreis der Familie ergänzt durch virtuell anwesende Figuren, den Fernsehmoderator, eine Prinzessin oder ein sterbendes Kind in Rwanda.

So verändern die modernen Medien das Bewußtsein von Millionen Menschen. Doch die Entwicklung der Medien verändere auch den Krieg. Paul Virilio schreibt, daß der Golfkrieg von den USA schon nach den Kriterien des Fernsehens geführt wurde. Ein vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, deren Geschichte Stefan Kaufmann in seiner Dissertation an der Universität Freiburg darstellte. Die überarbeitete Fassung liegt jetzt als Buch vor.

Welchen Veränderungen die operative Kriegführung im Laufe der Zeit unterworfen war, fand des öfteren die Aufmerksamkeit von Historikern. Ob nun Napoleon seine Divisionen getrennt und ohne Gepäck schneller als seine Gegner marschieren lassen konnte oder Moltke die Eisenbahn zum Truppentransport nutzte, in erster Linie steigerten sie damit die Geschwindigkeit beim Aufmarsch ihrer Truppen.

Dabei hatte Virilio es nicht nur auf den Krieg bezogen, als er davon sprach, daß die „Gewalt der Geschwindigkeit“ gleichzeitig zum Ort und zum Gesetz, zum Zweck und zur Bestimmung der Welt geworden ist. Dieser Eskalation der Geschwindigkeit widmet sich Kaufmann nun speziell bei der Nachrichtenübertragung. Die drei Technisierungsschübe durch Telegraf, Telefon und Funk transformieren, so der Autor, die Art und Weise, Krieg zu führen, radikal. Es wandelten sich nicht nur im Nachrichtentransport die Geschwindigkeiten, die Reichweiten, die Art und Weise der Kommunikation sowie die Strukturen der innermilitärischen Verbindungen, sondern auch die Steuerungsmöglichkeiten militärischer Bewegungen während der Mobilmachungs-, der Aufmarsch- und der Operationsphase sowie die Führungsmöglichkeiten während taktischer Bewegungen. Darüber hinaus ergaben sich neue Möglichkeiten, aber auch Erfordernisse militärischer Planung, Steuerung und Führung, die organisatorische und soziokulturelle Faktoren betreffen.

Kaufmann beginnt seine Analyse mit der Schlacht von Waterloo. Hier steht der Feldherr als stets präsenter, genialischer Planer und Lenker der Schlacht. Von ihm bis hin zum Infanteristen besteht Sichtkontakt und eine Kette unmittelbarer mündlicher Befehlsgebung. Zwischen 1870 und 1914 entwickelt sich ein völlig anderes Niveau der Kriegführung, hervorgerufen von der Einführung der Telegrafie, parallel zum Ausbau der Eisenbahn und dem Aufstieg des Generalstabs zur zentralen Planungs- und Steuerungsinstanz. Unter Moltke bildet sich 1870 das Modell einer „Kriegführung nach Fahrplan“, durch telegrafisch abgestimmte Eisenbahnbewegungen beim Aufmarsch der Armee. Im Schlieffenplan sieht der Autor sodann die „konsequente Fortschreibung einer telegrafisch gesteuerten Kriegführung auf operativer Ebene“. Während der Stellungskämpfe im Ersten Weltkrieg macht der Verfasser wiederum ein neues Niveau aus: telefonische Kommunikation und netzförmig gesteuerte Kriegführung. Dem folgt in der Darstellung von Kaufmann der „funktechnisch gesteuerte Krieg“ zwischen 1918 und 1945 mit der Vorbereitung des „totalen Krieges“ und den verschiedenen Stationen der Kriegführung im Zweiten Weltkrieg. Kaufmann sieht in dieser Etappe eine Verflechtung zwischen Radiotechnik und Mobilmachung zum totalen, ideologisch geprägten Krieg; ferner die mobile, per UKW-Funk gesteuerte taktisch-operative Bewegung als Basis des Blitzkriegs sowie Formen rein medial gesteuerter und teils automatisierter Kriegführung, die mit den funktechnischen Steuerungs-, Aufklärungs- und Täuschungsverfahren vor allem im See- und Luftkrieg entstehen.

Daß für diese Art der Welterklärung ein Bedarf besteht, zeigen nicht nur die überraschend hohen Absatzzahlen, die Autoren wie Paul Virilio oder der Systemtheoretiker Niklas Luhmann mit ihren Büchern erzielen. Die Welt ist so kompliziert, daß man sie auch nur noch sehr kompliziert fassen und interpretieren kann. Luhmann faßt das „System der Gesellschaft“ als Gesamtheit der füreinander zugänglichen, kommunikativ erreichbaren Erlebnisse und Handlungen. Abgeleitet davon heißt es medientheoretisch, gesellschaftliche Kommunikation sei beinahe ausschließlich technisch vermittelt, also seien nur noch Medien, Techniken der Nachrichtenübermittlung und -übertragung von Bedeutung. Das wendet Kaufmann nun nur noch auf die Entwicklung der Kriegführung an.

Ob es die pessimistische Katastrophenvorhersage von Virilio oder die vorliegende, sehr interessante Arbeit ist, beide scheinen in sich logisch. Aber nur, wenn bestimmte Gesichtspunkte wie „ökonomische Interessen“ einfach weggelassen werden. Geschwindigkeit ist wohl eine Macht, aber nicht die einzige.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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