Eine Rezension von Birgit Pietsch

 

La Grande Illusion?

Tony Judt: Große Illusion Europa
Herausforderungen und Gefahren einer Idee.

Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck.
C. Hanser, München 1996, 160 S.

 

Wer der europäischen Idee skeptisch gegenübersteht, müßte sich eigentlich freuen, wenn ein kritisches Buch zu Europa erscheint. Von einem britischen Historiker, Professor in den USA, könnte man zudem auch Geistreiches zu diesem Thema erwarten. Diese Erwartungen erfüllt der vorliegende Band nur bedingt.

Während im Originaltitel La Grande Illusion? noch als Frage formuliert wird, lautet der deutsche Titel doch sehr sicher Große Illusion Europa, und genau dies will uns der Autor hier beweisen. Judt glaubt, daß ein vereinigtes Europa nicht politische und soziale Probleme löst, sondern erst schafft. Europa, wie wir es heute kennen, sei mehr oder weniger ein Zufallsprodukt: „Dieses zufällige Ergebnis einer Summe wirtschaftlicher, nationaler und wahltaktischer Einzelinteressen war durch die Umstände bedingt und durch Wohlstand ermöglicht worden. Erst nachdem es bereits existierte, wurde es in den weitgesteckten argumentativen Rahmen eines Zusammenschlusses der europäischen Nationen gestellt.“ Die Bedingungen, unter denen die westeuropäische Einigung erfolgte, wären, so urteilt Judt, „mit Sicherheit einzigartig und unwiederholbar“. Daher wäre es eine Illusion, dieses Europa bis in die Ewigkeit fortzuschreiben. Vor allem, da eine Fortschreibung auch eine Ausdehnung auf den „vergessenen Teil Europas“ erfordere. Eine Aufnahme von osteuropäischen Ländern überfordere, so stellt Judt überzeugend dar, die Europäische Gemeinschaft, andererseits könne es aber keine stärkere alleinige Integration nur Westeuropas geben. Einige Regionen des Kontinents würden zu Gewinnern, andere zu Verlierern werden. In letzteren würden nationalistische Demagogen die Wähler anziehen, was sie ja heute bereits tun. Des weiteren würden auch die Wanderungsbewegungen innerhalb Europas zunehmen und fremdenfeindliche Stimmungen verstärken.

Die Thesen, die Judt anführt, scheinen gar nicht so abwegig, doch oft sind sie nur mäßig begründet.

Dafür bietet der Autor an anderer Stelle etwas, was wohl britischer Humor sein soll. Deutschland, so heißt es etwa, war ein Staat, „der traditionelle militärische Macht mit modernem Industriepotential vereinigte - eine Verbindung, die kein anderer europäischer Staat vorzuweisen hatte“. An anderer Stelle meint Judt, während des Zweiten Weltkrieges hätte Großbritannien „als einziges Land nicht unter Besatzung zu leiden gehabt“. Maria Theresia und Fürst Schwarzenberg würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie folgenden Satz hörten: „Ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Habsburger, die erst angefangen hatten, eine dominante Rolle in Mittel- und Südosteuropa zu spielen, nachdem sie von den Preußen aus Deutschland verdrängt worden waren ...“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite