Eine Rezension von Hainer Weißpflug

 

Wie ein Märchen ...

Hermann Engl/Frank Lämmel: Highway Deutschland
Das große Buch der Autobahn.

Engl & Lämmel Verlag, Holzkirchen 1997, 175 S.

 

„Die Autobahn in Deutschland: mehr als 11 000 Kilometer betonierte Banalität?“ Diese einleitend gestellte Frage wird von den beiden Autoren, die mittlerweile selbst auch Verleger sind, im vorliegenden Bildband mit großer Sorgfalt und Hingabe, mit künstlerischer und fototechnischer Meisterschaft sowie journalistischem Geschick bejaht. Wie in einer Werbesendung bei RTL oder SAT 1 wird die Fahrt auf der Autobahn zunächst als „Endlos aufregend“ geschildert. „Unabhängig und frei, privat und bequem - das ist Reisen auf der Autobahn.“ (S. 11) Daran schließt sich eine Schilderung der unterschiedlichsten Erlebnisse einer Fahrt irgendwo auf deutschen Autobahnen an, aus dem so oft verfluchten Stau wird das gemeinsame Erlebnis am „Treffpunkt Autobahn“, verschiedenste Charaktere begegnen dem Leser - von Schein bis Sein, vom aggressiven Raser bis zum Konkurrenten, der todbringende Milchtanklastzug, berühmte Rennfahrer und eine tragische Geschichte aus den dreißiger Jahren, Handwerksburschen auf Wanderschaft und Aussteiger.

Dem schließt sich ein interessanter Bericht über die Geschichte der deutschen Autobahnen an. „Nach über fünfundsiebzig Jahren Autobahn in Deutschland ist es an der Zeit, die Geschichte so zu erzählen, wie sie wirklich war.“ Weit holen die Autoren aus, um den geschichtlichen Blick auf das Phänomen Autobahn zu schärfen. Da ist von Königsstraßen im fernen Persien im fünften Jahrhundert vor Christus die Rede, von den Eroberungs- und Handelsstraßen der Römer, von der „route national“ Paris-Orleans 1556, von der Erfindung des Straßenbelags aus verdichtetem Schotter bis zur Erfindung des Benzinmotors von Carl Benz im März 1855 und dem T-Modell des Henry Ford, mit dem er 1913 die Automassenproduktion einleitete. Ein Blick auf Rennstrecken in den USA und die Geschichte der AVUS. „Die AVUS-Rennstrecke war damit die erste vierspurige Autobahn: Zwei jeweils acht Meter breite Doppelfahrbahnen und über neun Meter breite Mittelstreifen.“ (S. 51) Neuer Straßenbelag, neue Industriezentren, neue Autos, neue militärische Strategien und neue Visionen, „Autostrade“ in Italien: Milano-Varese, Milano-Como und Milano-Arona in den zwanziger Jahren, Pläne zum Autobahnbau in Deutschland, vorgestellt auf der Automobilausstellung in Basel 1927, 1929 endlich der Beginn der Bauarbeiten zum Autobahnabschnitt Köln-Bonn. Kein geringerer als Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, eröffnete 1932 die erste deutsche öffentliche Autobahn, erfährt der überraschte Leser. Dem folgt die Darstellung des Autobahnbaus im Dritten Reich, die Propagandalügen der Nationalsozialisten, ihre Tricks und Machenschaften, um letztlich Rollbahnen für den militärischen Aufmarsch durch ganz Deutschland zu ziehen. Kaum ein Thema lassen die Autoren aus: Erlebnisstraßen sollten die Autobahnen sein, „Kraft durch Freude“ sollten sie geben, und Krankheiten und Krieg brachten deren Planer schließlich über Deutschland.

Es folgt ein Blick auf den Wiederanfang nach 1945, die ersten 13 Kilometer einer neuen Autobahnstrecke Nürnberg-Frankfurt mit 41 Brücken wurden 1958 übergeben. Das Netz der Bundesautobahnen wurde von ursprünglich 2110 km auf 8822 km im Jahre 1990 erweitert und modern ausgebaut. 1375 km Autobahn auf dem Territorium der DDR blieben vier Jahrzehnte lang nahezu unverändert. Neu hinzu kamen nur die Verbindung Berlin- Rostock und die Verbindung nach Hamburg. Nach der Wiedervereinigung erfolgen die Schließung der unterbrochenen Verbindungen Ost-West sowie Ausbau und Modernisierung der Autobahnen im Osten.

Nach diesem geschichtlichen Rückblick kommen die Autoren so richtig ins Schwärmen. Schon im bisherigen Teil stehen wunderschöne Farbaufnahmen nicht nur als Ergänzung zum Text, sie sind eigene Erzählung mit den Mitteln der Fotografie. Nun aber tritt der Text zurück und das eindrucksvolle faszinierende Foto in den Vordergrund. Zunächst „Kühne Schwünge“ - Moseltalbrücke Winningen, Kochertalbrücke Geislingen, Neckartalbrücke Weitingen, Elztalbrücke, Elstertalbrücke, Teufelstalbrücke bei Jena und die Rheinbrücken, um nur einige zu nennen. Wohltuend das stimmige Verhältnis zwischen Bild und Text. Die Fotos kommen so gut zur Wirkung, der Text unterstützt mit wenigen Informationen. Den Brücken folgen die Tunnel, die Raststätten, die Pannenhilfsdienste und schließlich eine beeindruckende Schilderung der „Königin der Autobahnen“ - der Sauerlandlinie. Wiederum führen eindrucksvolle Bilder den Leser in die Welt an den Autobahnen, in jene Welt, an der der Nutzer mit 130 bis 200 km/h vorbeirast, sie kaum wahrnimmt. Im Abschnitt „Herzadern der Deutschen“ werden Strecken in der Rhön, den Kasseler Bergen, dem Harz und dem Thüringer Wald vorgestellt, schließlich folgen die Alpenstrecken. Alles in allem eine phantastische Schilderung der deutschen Autobahnen und des Landes, welches sie durchschneiden.

Und da wäre ich bei meinen kritischen Einwänden. Nirgendwo in dem 175 Seiten umfassenden Werk wird auch nur ein Wort darüber verloren, welche Auswirkungen das Netz von Autobahnen auf Natur und Umwelt hat. Verschämte drei Seiten sollen unter dem Titel „Zeichen der Vernunft“ dem Umweltschutz gerecht werden, aber hier wird keines der tatsächlichen Probleme so geschildert, wie vorher und danach das Hohelied der Autobahnen gesungen wird. Kein Wort zur Teilung ursprünglich geschlossener Naturräume und deren Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt, kein Wort über die wachsende Verschmutzung der Luft und des Bodens durch Kohlendioxid, Stickoxide, Schwermetalle oder die Ozonbelastungen. Smog - wesentlich ausgelöst durch den Autoverkehr - kommt überhaupt nicht vor. Das Motto „Wir sind der Stau“, das eingangs des Buches als Stau der neuen Art und sinnvolle Sonntagsbeschäftigung gewürdigt wird, konfrontieren die Autoren nicht mit dem Bild eines tristen Herbst- oder Wintertages, an dem unter tiefhängenden grauen Wolken und Regenschleiern dunkle Wolken stickiger Abgase den Autobahnstau einhüllen und Atemnot, Herzbeschwerden und andere Symptome bei Fahrer und Beifahrer auslösen. Warum? Auch das sind Deutschlands Autobahnen. Kein Wort übrigens auch über die unendliche Zahl von Baustellen, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Radarfallen usw., die das Fahren auf den Autobahnen oft ein Greuel werden lassen, kein Wort oder nur wenige über Unfälle und deren Statistiken. Warum? Schließlich findet man auch kein Wort über die neuen bzw. geplanten Strecken im Osten. Etwa die Trasse quer über den Thüringer Wald oder die Trasse an der Ostseeküste. Kein Foto zeigt die Schönheit und Geschlossenheit der betroffenen Gebiete, die von den neuen Trassen zerschnitten werden. Kein Foto von den Protesten der Bürger, der Natur- und Umweltschützer. Passen sie nicht zu der heilen Welt deutscher Autobahnen, das die Autoren dem Leser servieren wollen? Das Buch schließt mit einigen wenigen Zeilen und Bildern über Fernfahrer und Brummis auf der Autobahn. Das große Problem der notwendigen Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene, der Umwelt zuliebe, wird nicht erwähnt. So bleibt ein fader Beigeschmack: Die Lücke, die die Autoren auf dem Büchermarkt erspäht haben, der überraschende Coup, den sie landeten mit diesem Bildband, zeigt nur die schöne Seite deutscher Autobahnen, ja, er macht sie schöner, als sie gewöhnlich sind. Er zeigt nicht ihre Kehrseite, ihre Probleme, ihre negativen Seiten und Wirkungen. Leider.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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