Eine Rezension von Ulrich van der Heyden

 

Brachliegende Potentiale

Edelgard Bulmahn (Hrsg.): Vereinheitlicht? Die deutsch-deutsche Wissenschaftslandschaft - Chancen und Herausforderungen (agenda Zeitlupe 11).

agenda Verlag, Münster 1997, 206 S.

 

Zehntausende arbeitslose Akademiker, geschlossene Forschungseinrichtungen im Osten Deutschlands, bestenfalls befristete Arbeitsverträge für einen Großteil der ostdeutschen Forscher. Hinzu kommen Verdrängungsprozesse von westdeutschen Wissenschaftlern, die auf den relativ wenigen neugeschaffenen wissenschaftlichen Stellen in den nach der deutschen Vereinigung errichteten Instituten in den neuen Bundesländern streben und dabei auf Grund ihrer Sozialisation über die besseren Chancen verfügen. Ein kaum rational zu fassender Prozeß vollzieht sich im sogenannten Beitrittsgebiet. Ein akademisches Arbeitslosenheer ist nicht nur brachliegendes Wissen und ein ständiger Unruheherd, sondern die Betroffenen sind auch ein wichtiges Wählerpotential. Und so hat sich die SPD am 12. Oktober 1996 der Problematik angenommen, und einige Funktionäre haben mit Fachleuten und Betroffenen über die Misere der Wissenschaft im vereinten Deutschland diskutiert. Zwangsläufig gruppierten sich die Diskussionen um die Probleme auf dem Wissenschaftsgebiet vor allem in den neuen Bundesländern. Immerhin ist hier in den vergangenen Jahren so viel zerstört worden, daß es weltweit keinen ähnlichen Vorgang gibt. Und die Akademikerarbeitslosigkeit ist zur Zeit so hoch wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Also Gründe genug, sich des Problems anzunehmen, wenn auch etwas verspätet. Und für so manchen Betroffenen bleibt ein flaues Gefühl zurück, wenn er fragt: Was bringt es?

Für den interessierten Leser bringt die mit diesem Buch nun vorliegende Dokumentation der Diskussionsbeiträge in der neuerrichteten Parteizentrale der SPD in Berlin jedoch eine Reihe von neuen Erkenntnissen und Vergleichsmöglichkeiten. Er kommt zweifellos, trotz auch hier dokumentierter vereinzelter gegenteiliger Meinungen, zur Erkenntnis, daß die Situation eigentlich viel schlimmer ist, als er angenommen hat. Wenngleich die naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen im Mittelpunkt der Anhörungen und Diskussionen standen, so ist doch einzuschätzen, daß die Lage nicht viel anders auf dem geistes- und sozialwissenschaftlichen Gebiet ist. Eher ist hier die Situation noch viel desaströser als in den anwendungsorientierten Wissenschaftsdisziplinen, denn etwa Philologie, Geschichtswissenschaft oder Germanistik bringt direkt kein Geld; im Gegenteil, es kostet etwas.

Wie kann eine solchermaßen ramponierte Wissenschaftslandschaft dem verschärften internationalen Wettbewerb begegnen, den globalen sozialen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft gerecht werden? Alte Denkschemata und Vorstellungen müssen neu befragt werden. Das ist eine gewaltige Aufgabe, an der Politiker und Wissenschaftler gemeinsam arbeiten müssen. Und man kann dabei nicht auf die Erfahrungen und Leistungen der ostdeutschen Wissenschaftler verzichten - sollte man zumindest annehmen. Auf der Tagung wurden in dieser Hinsicht immerhin hoffnungsvolle Signale gesetzt. Es wurde herausgearbeitet, daß nur in der vorurteilsfreien Berücksichtigung beider deutschen Wissenschaftskulturen der Weg zu einer „neuen Forschung“ in Deutschland liegen kann.

Was ebenfalls deutlich in der Fachtagung des SPD-Wissenschaftsforums hervorgehoben wurde, ist, daß zwar vornehmlich die Misere in Deutschlands Osten im Mittelpunkt des Interesses stand, die dortigen Probleme jedoch letztlich nicht auf die neuen Bundesländer beschränkt sind oder bleiben. Früher oder später sind dies gesamtdeutsche Probleme. Um diese zu meistern, bedarf es Lösungsvarianten. So recht deutlich wurden diese allerdings von den Vertretern der SPD nicht vorgetragen. Aber sie haben sich erst einmal mit der Situation vertraut gemacht. Und dies berechtigt wenigstens zu etwas Hoffnung, denn man kann nur etwas verändern, wenn man weiß, was man verändern muß.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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