Eine Rezension von Helmut Hirsch

 

Von der Sehnsucht in die Ferne

Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war
Vom Beginn des modernen Tourismus: Die „Grand Tour“.

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1997, 222 S.

 

Bevor der Reisende den Ort seines alltäglichen Lebens verläßt, um anderes zu sehen, hat er Ziele. Sehnsucht in die Ferne ist zu allen Zeiten das Hauptmotiv Reisender. Der italienische Literaturwissenschaftler Attilio Brilli, amerikanische Literatur an der Universität Siena lehrend, hat sich mit den Anfängen des europäischen Tourismus beschäftigt. Er hat Quellen durchforscht, in Bildarchive geblickt, die Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts gelesen. Er hat grundsätzliche Erfahrungen zusammengetragen. Auf eine Kurzformel gebracht, handelt es sich immer um drei Zeitphasen: vor der Reise, die Reise selbst, nach der Reise. Eingebettet ist alles ins aktive und passive Erleben des Reisenden. Doch nie geschieht das ziellos, wie schon das Reisen im 17. Jahrhundert zeigt. Brilli setzt an den Anfang seines Buches eine Bemerkung Montaignes, der einmal meinte, daß jeder Reisende dem Leser ähnele, der während seiner Lektüre befürchte, sie werde gar zu früh enden. Findige Köpfe haben nun im frühen 18. Jahrhundert schon dem ganzen Reisegeschehen einen besonderen Stempel gegeben. Man erfand die „Grand Tour“ in England, denn von dort aus bewegte sich bald ein beachtlicher Strom von neugierigen Reisenden, die Frankreich und Italien zu ihren Hauptzielen bestimmten. Es ist die Blütezeit der Bildungsreise. Die Söhne der Aristokratie wollen Erfahrungen sammeln, ebenso das junge Bürgertum. Bei der „Grand Tour“ beginnt eines der „interessantesten Phänomene der europäischen Kultur der Neuzeit, in dem sich das Vergängliche und das Dauerhafte, Oberflächlichkeit und Freude an genauer Beobachtung, Neugier und Abenteuerlust mischen“.

Vor allem sind es die englischen Autoren, die gern und lang zitiert werden. Laurence Sterne nennt es den Stachel der Neugierde, der, „allen Söhnen und Töchtern Adams eingewoben“, zur Reiselust führe. Diese kenne Nachteile und Vorteile, deren wichtigste ihm sind: „Sprachen zu lernen und die Gesetze und Sitten, die Interessen und die Regierungen anderer Nationen zu verstehen - damit man Weltgewandtheit und Sicherheit im Benehmen erwirbt und den Geist zur Geschmeidigkeit bei Konversation und menschlichem Umgang erzieht und wir endlich der Gesellschaft unserer Tanten und Großmütter entwöhnt werden und unsere Kinderstubenfehler hinter uns lassen können.“ Ein schöner Entwurf, zu allen Zeiten von den vortrefflichsten Reisenden erreicht. Alles gilt wohl auch heute noch. Die „Grand Tour“ galt aber nicht nur dem Kennenlernen der Länder und Städte, der Wissenschaften und der Künste, mit ihr verbanden die Engländer nicht selten auch die Hoffnung auf ein Liebesabenteuer. Viele notierten ihre Erlebnisse, so entstand ein Archiv lesbarer und langweiliger Reisebücher; die besten von ihnen dienten der Reisevorbereitung damals und mitunter noch heute. Attilio Brilli macht sein Buch so anschaulich wie nur möglich. Am lesenswertesten wird er dann, wenn er die theoretischen Erwägungen, ohne die es freilich nie ganz geht, wieder verläßt und sich dem unmittelbaren Ereignis, dem Reisenden und allen pittoresken Freuden seiner Strapazen, widmet. Mit Laurence Sterne nennt er die Hauptakteure des Reisens im 18. Jahrhundert Neugierige und Galgenstricke, Hypochonder und den empfindsamen Reisenden. Nicht unerwähnt bleiben darf, daß diese Reisefreudigkeit auch literarische Folgen hatte. Im Roman der Engländer, später auch der Franzosen und der Deutschen, hat die „Grand Tour“ tiefe Spuren hinterlassen. Die Philosophen messen dem Reisen innerhalb der Aufklärung eine wichtige Rolle zu, Montesquieu schreibt während seiner Rundreise durch Italien: „Man reist, um andere Sitten und Gebräuche zu beobachten, nicht um sie zu kritisieren.“

Attilio Brilli informiert den Leser ausführlich über die Physiognomie der Reisebücher, geht deren Einfluß auf Tagebuch und Briefform nach, setzt prägnant die Unterschiede zwischen einem philosophischen Reisenden und einem empfindsamen Reisenden. Gilt dem einen die Anschauung der äußeren Welt, vor allem Kunst und Kultur, kapriziert sich der andere auf eigene Erlebnisse oder auf die gemütbestimmende Seite des Reiseabenteuers. Romantiker des Reisens blicken Ruinen in Italien länger an als Handelsreisende. „Es sind Ruinen, zwischen denen auch das Gedenken an vergangene Zeitalter und ihre beklemmende Macht seinen Ausdruck findet.“ (Brilli) Die „Grand Tour“ wird in allen Einzelheiten dargestellt. Reisevorbereitung, Jahreszeiten und Stationen, Begleiter und Gefolge, Transportmittel, Poststationen, Gasthäuser, Begegnungen und Zusammenstöße, immer wird ein lebendiger Querschnitt gegeben, Vorzüge und Nachteile sorgsam abgewogen. Die einen meinen, Rom müsse man im Mondlicht durchwandern, denn nur so nähere man sich der lebendigen Vergangenheit. Andere warnen eindringlich vor den Gefahren im südlichen Italien. Alle, die von Rom nach Neapel reisen, drohen zwei elementare Gefahren: die Pontischen Sümpfe und die Überfälle von Straßenräubern. Attilio Brilli ironisiert alte Gemeinplätze, weil sie oft auch noch gegenwärtige sind. Venedig gilt seit jeher als mythische Stadt in der Reisewelt. Die Reisenden der „Grand Tour“ hatten aber auch Stationen auf ihrer Rückreise, die ihnen weniger starke Eindrücke beschert. Berlin galt noch als „Brennpunkt der Aufklärung und des Lichtes“ (Madame de Staël), gern zog sich der Reisende auch nach Mannheim oder Weimar zurück. Was die Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts erlebt haben, kann dem Reisenden des 20. Jahrhunderts nicht langweilig werden.

Attilio Brilli hat gut ausgewählt, denn er weiß ja, wer der Leser seines Buches ist: der Reisende, der morgen wieder nach Italien aufbricht. Und so liest man gern, was Stendhal 1816 notierte: „Ich fahre sehr gerne in einer offenen Kalesche; manchmal wird man naß, wie es heute geschehen ist, aber man hat einen völlig ungehinderten Blick in die Landschaft, und ich merke, daß dies das einzige Mittel ist, die Erinnerung lange frisch zu halten.“

Dieses Buch ist reich an frischen Erinnerungen derer, die vor uns gereist sind. Bestechend ist die Ausstattung mit zeitgenössischen Stichen und Bildern. Auch darin erblickt der Reisende von heute gern seine Illusionen. Er erkennt wieder, was auch jener „Grand Tourist“ schon gesehen. Zugleich machen auch die Bildbeispiele deutlich, was der Leser ständig bemerkt: Alles ist anders, alles ist verändert. Doch es gilt die Frage, um welche Art Leser handelt es sich hier, verbirgt sich ein Abenteurer dahinter, der auf eigene Faust etwas unternimmt, oder ist es einer von den vielen, viel zu vielen Touristen, die jährlich in den Süden eilen? Der Tourist, damals wie heute, ist einer, der nach kurzer Zeit schon wieder nach Hause zurückkehrt. Der Reisende hingegen bleibt länger, eilt von Ort zu Ort. Beiden, folgert Brilli, muß „der eigentliche Sinn des Reisens und die Lust an der Eroberung entgehen, die eine Reise nur als abgeschlossenes Ganzes vermittelt“.

Kann man die Kunst des Reisens neu erwerben? Diese Frage stellt der Autor am Schluß seines Buches, in der Hoffnung, daß es einigen gelingen möge, sich durch den Dschungel der Tourismus-Börsen hindurchzuwinden. Er empfiehlt die „leidenschaftlichen Pilger“, und, Lévi-Strauss zitierend, schränkt er sogleich wieder ein, der Blick in die Reisebücher erzeuge stets die „Illusion von etwas, das nicht mehr existiert, von dem wir uns aber wünschen, es möge noch existieren“.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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