Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Wenig ärztliches Ethos

Bernd Sülzer: Fette Jahre

ECON Taschenbuch Verlag, Düsseldorf 1996, 463 S.

 

Der Verlag bezeichnet seine Lizenzausgabe des bei Claassen, Hildesheim, erschienenen Buches als Thriller. Da dieser Begriff auslegungsfähig ist und eine spannende Handlung sowie der gemeinhin erwartete politisch-kriminelle Kontext gegeben sind, mag die verkaufsfördernde Bezeichnung angehen. Die Geschichte ist jedoch eher ein kleines, gut komponiertes Sittengemälde von einem Stück heutigen Deutschlands. Sie lebt nicht von vordergründiger Spannung. Was sie an Crime zu bieten hat, ist eher im Hintergrund angesiedelt und paßt sich der beinahe beschaulichen gesellschaftskritischen Schilderung dezent an. Das ist keineswegs ein Nachteil, sondern angenehm für Leser, denen das dick Aufgetragene nicht bekommt.

Zwei fast gleichzeitig verübte Morde erscheinen nur als Momentaufnahme, unausgeschmückt, mit wenigen Sätzen gut skizziert, die beiden Leichen und die Autos der Getöteten lösen sich wie Nebel auf. Ein dritter Todesfall bleibt gleichsam in der Schwebe. Undeutliche Indizien lassen an ein Verbrechen denken. Beweise gibt es nicht. Nur der Leser weiß: In den drei Fällen hat Big Pharma zuschlagen lassen, ein deutscher Konzern, der Dutzende Todesfälle durch illegale Medikamententests in Ägypten zu verantworten hat und vertuschen will. Das gelingt.

Als tragende Handlung, im Vordergrund der Geschichte, die im Raum Köln und in der Schweiz spielt, erleben wir den Karrieresprung eines Orthopädie-Chirurgen, dem vor lauter Gier nach wissenschaftlichem Ruhm nebst Chefarzt- und Professorentitel ein Großteil des ärztliches Ethos abhanden kommt. Sein Freund, mächtiger Direktor bei Big Pharma, befördert das Vorwärtskommen des Herren Doktor ebenso dezent wie wirksam. Der sieht sich binnen Jahresfrist am Ziel seiner Wünsche. Als Gegenleistung transportiert er Schwarzgeld des Konzerns in Köfferchen in die Schweiz. Von dort gelangt es mit Hilfe eines Bankiers - honorig wie nur ein Schweizer Banker sein kann - und eines türkischen Regierungsbeamten in die rechten Hände. Auch der Bau einer Fabrik in Syrien zur Beseitigung germanischen Giftmülls wird auf diese Weise geschmiert.

An den mittlerweile schmuddligen Händen des Orthopäden bleibt natürlich ebenfalls ein wenig Bares kleben. Von jedem Geldtransfer bekommt er ein Prozent auf ein Schweizer Konto. Das sind für die ersten fünf Millionen schon mal 50 000 Mark - die er zunächst „eigentlich“ nicht nehmen möchte - und beim zweiten Mal 150 000 Mark, die er schon wie selbstverständlich akzeptiert. Der Herr Doktor reisen dann noch öfter. Ein Schelm, der sich überhaupt etwas dabei denkt.

Der Autor versteht es, die alte Geschichte vom Doktor Faust und seinem Verführer Mephisto interessant abzuwandeln und zu modernisieren. Eine gerechte Strafe ereilt in der bundesrepublikanischen Gegenwart weder den einen noch den anderen, nicht einmal wegen Steuerhinterziehung und Beihilfe hierzu. Und mit Beginn der fetten Jahre schwinden beim Professor Doktor Chefarzt offenbar auch die geringen Bedenken, die er anfangs gegen die Praktiken seines völlig skrupellosen Freundes hatte. Auch eine dritte Hauptperson der Handlung, ein Regierungsrat im Bundesgesundheitsministerium, ist negativ besetzt. Sein zerstörerischer Haß auf den erfolgreichen Arzt führt zur Selbstzerstörung.

Drei Lichtgestalten hellen das Bild auf. Da ist ein glaubensfester, bescheidener, weltoffener, mithin vorbildlicher katholischer Priester, vielleicht einem existenten Kleriker nachgezeichnet, vielleicht zugleich ein Tribut an das Erzbistum Köln. Da ist eine hübsche Primanerin, angeheiratete Tochter des Pharmadirektors, die sich in den Arzt verliebt, bevor er in seine fetten Jahre kommt. Sie wendet sich von ihm ab, als sie seine Hilfsdienste für Big Pharma zu erkennen beginnt. Und schließlich ein Studienkollege des erfolgsüchtigen Mediziners, bodenständiger Typ, in der ländlichen Schweiz praktizierender Orthopäde mit Frau und vier Kindern, der in sich ruht und das verkörpert, was der Ehrgeizling nicht mehr erreichen wird: Ehrlichkeit vor sich und der Welt, Anständigkeit, Zufriedenheit.

Die Figuren sind wenig ausgearbeitet, ihre Motivationen müssen dem skizzierten Verhalten entnommen werden. So wird der zweifellos schwere Entschluß der liebenden Primanerin, ihren korrumpierten Doktor zu verlassen und sich zugleich aus dem Haus ihres suspekten Stiefvaters zu entfernen, dem Leser nur kurz als Fakt präsentiert. Er erfährt eine Tatsache, die ihm logisch und der jungen Dame angemessen erscheint, aber die innere Begründung dieses Schritts wird nicht geliefert, man soll sie sich denken. Dies ist für ein solches Buch legitim, denn es will kein Roman sein, aber die Handelnden wirken dadurch eher einschichtig als plastisch.

Der Autor kommt mit seiner Geschichte verhalten daher. Er reißt den Leser nicht mit, weil er auf reißerische Effekte verzichtet, aber er zieht ihn mit. Es ist eine angenehm schnörkellose Erzählweise, fast sachlich. Den Gang der überschaubar modellierten Handlung kann man mühelos nachvollziehen - ja, so können sich Menschen in einer bestimmten Situation verhalten, dies alles gibt es zweifellos. Selbstverständlich hat der Autor einiges kaschiert, um sich keinen Ärger einzuhandeln.

Doktor Faust aus Köln ist ein lebendiggemachter Beweis dafür, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse und die eigene Anfälligkeit das Berufsethos eines Arztes ebenso unmerklich wie wirksam angreifen, schließlich zerstören können. Ein Zweifel, ob die geschilderten Praktiken von Big Pharma, Schweizer Bankiers und diversen staatlichen Institutionen wahrscheinlich sind, ist jedenfalls überflüssig. Der Autor weiß, worüber er schreibt. Ebendeshalb kann man Fette Jahre keinem Neubundesbürger empfehlen - sein Vertrauen in die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland könnte erschüttert werden.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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