Eine Rezension von Max Claus Resel

 

Eine lobenswerte Rilke-Ausgabe

Rainer Maria Rilke: Erzählungen - Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Rüdiger Görner.
Manesse Verlag, Zürich 1997, Manesse Biblithek der Weltliteratur, 566 S.

 

An dieser Rainer-Maria-Rilke-Ausgabe in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur ist eigentlich alles schön: die Auswahl aus dem Prosawerk des Dichters, die Art der Würdigung großer literarischer Leistungen, das handliche Format des Buches, das Bild auf dem Umschlag; ja selbst Papierfarbe und Schriftsatz unterstreichen die Schönheit. Herausgeber Rüdiger Görner und Verlag haben lobenswerte Arbeit geleistet und ihr Versprechen realisiert: „Rilke wird in diesem Band mit seiner schönsten Prosa vorgestellt, die seiner Lyrik ebenbürtig ist.“

Selbstverständlich nehmen die große Künstler-Erzählung Auguste Rodin (1902) mit ihrem Lobgesang auf die Arbeit und Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) - eine der nachhaltigsten dichterischen Reflexion vom Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren Vorahnungen von bevorstehenden Irrtümern, krankhaften Gesellschaftserscheinungen, menschlichen Krisen und Humanitätsverlusten - schon aufgrund ihrer zentralen Bedeutung in Rilkes Gesamtwerk den meisten Platz ein. Doch der Herausgeber hat seine Textauswahl so angelegt, daß einerseits die Vielseitigkeit der Erzählweise dieses unsteten, zeit seines Lebens rastlosen Dichters, andererseits wichtige Eckpunkte seiner geistigen Entwicklung gleichermaßen sichtbar wurden.

Aus Rilkes Prager Frühphase und dem 19. Jahrhundert stammen die ersten fünf Erzählungen: Ewald Tragy (1898), König Bohusch (1899), Ein Morgen (1899), Der Kardinal (1899) und Frau Blaha's Magd (1899). Aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts hat der Herausgeber - neben den beiden erzählerischen Hauptwerken - drei kleinere Prosastücke ausgewählt: das Fragment von den Einsamen (1903), Erlebnis I-II (1913) und Der Brief des jungen Arbeiters (1922) - dichterische Zeitdokumente par excellence. Das fünfzehnseitige Nachwort erkundet die inneren Zusammenhänge Rilkescher Prosa, benennt Motivationen für die einzelnen Erzählungen, kommentiert, wo nötig, Textstellen und gelangt zu einem einprägsamen Fazit: „Gewiß ist, was wir haben: die Prosa eines Dichters, die sich mit keiner erreichten Form zufriedengab, die nicht Erzählung auf Erzählung, Roman auf Roman folgen ließ, die sich nicht mit einer einmal erprobten, bewährten Form begnügte, sondern die Möglichkeiten des prosahaften Ausdrucks erkundete. Wie oft man die wertvollsten der Prosaarbeiten Rilkes auch liest, sie bleiben Fundstücke, neu und überraschend bei jeder Lektüre.“ Auffällig ist immer wieder der große Aktualitätsbezug der Erzählungen. So gerät im letzten Beitrag - Der Brief des jungen Arbeiters - ein junger, der Poesie und Historie aufgeschlossener Franzose fünf Jahre nach Lenins Machtergreifung in St. Petersburg ins Grübeln: „Ich bin jung, und es ist viel Aufbegehrung in mir; ich kann nicht versichern, daß ich nach meiner Einsicht handle in jedem Falle, wo Ungeduld und Unlust mich hinreißen, im Innersten aber weiß ich, daß die Unterwerfung weiterführt als die Auflehnung; sie beschämt, was Bemächtigung ist, und sie trägt unbeschreiblich bei zur Verherrlichung der richtigen Macht.“ Wurde damit nicht ein Problem angesprochen, das die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts prägen sollte?

Wer sich geistig auf die bevorstehende Jahrtausendwende vorbereitet und Bilanzen des zu Ende gehenden Jahrhunderts ziehen möchte, erhält in Rainer Maria Rilkes ausgewählter Prosa Impulse für das Nachdenken en masse.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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