Eine Rezension von Helmut Fickelscherer

 

Die anderen Ferien

Günter Görlich: Der verrückte Onkel Willi

Erzählung für Kinder - und alle anderen ...
KIRO-Verlag, Schwedt/Oder 1994, 85 S.

 

Keine Ferien für Jonas

Eine ernsthafte und tapfere Geschichte.
Erzählt von Günter Görlich, illustriert von Günter Wongel.
LeiV Buchhandels- und Verlagsanstalt, Leipzig 1996, 72 S.
Reihe: BÜCHER KÖNIG)

 

Hannes aus Der verrückte Onkel Willi beabsichtigt in den Herbstferien, mit seinen Eltern nach Rom zu reisen, und Jonas aus Keine Ferien für Jonas will nach Spanien fliegen, nur mit seiner Mutter, weil der Vater sich um das in Bau befindliche Einfamilienhaus zu kümmern hat. Aus beiden Reiseplänen wird nichts, denn die Eltern von Hannes müssen zu einem Kongreß, und in Jonas' Familie durchkreuzt ein schlimmes Unglück die Urlaubsvorbereitungen. Wie sich die Ferien für die beiden Schüler unter den veränderten Bedingungen gestalten, beschreibt Günter Görlich in zwei anrührenden Kinderbüchern.

Es ist schon eine Enttäuschung für den elfjährigen Hannes, daß die Italienreise, als deren Höhepunkt ein Besuch des Fußballspiels Rom gegen Neapel, mit dem weltberühmten Spieler Salvatore, geplant war, nicht zustande kommt. Aber die Eltern, beide im Computer-Geschäft tätig, dürfen den Elektronik-Kongreß in München, zu dem sie kurzfristig noch eingeladen wurden, nicht verpassen, besonders Hannes' ehrgeizige Mutter möchte daran teilnehmen. Und auch die Großeltern sind gerade auf Reisen. Deshalb muß Hannes die eine Ferienwoche zu Onkel Willi, dem Bruder des verstorbenen Großvaters mütterlicherseits. Er kennt den Großonkel kaum, weiß nur, daß der allein wohnt und in der Familie als Sonderling gilt. Und Hannes ahnt Unannehmlichkeiten, wahrscheinlich hat dieser Onkel Willi nicht einmal einen Videorecorder, keine anständige Musikanlage, auch kein Telefon, mit dem man die Eltern erreichen könnte. Der erste Eindruck erweitert die Befürchtungen noch: Der Onkel wohnt in einer Mietswohnung in einem alten grauen Haus, und Hannes soll in dem Zimmer von Willis vor Jahren bei einem Motorradunfall tödlich verunglückten Sohn Ralf schlafen, einem „Zimmer wie aus einem alten Film“. Und noch eine Erfahrung: „Onkel Willi macht jedenfalls das, was er für richtig hält, auch wenn er einen Gast hat.“

Und so wird Hannes ohne viel Federlesen in das Leben des Rentners Willi Schrunz einbezogen und lernt ein völlig neues Milieu kennen. Der Onkel zeigt ihm den Jüdischen Friedhof, ohne zu fragen, ob das Betrachten der langen Grabreihen Hannes langweilt oder nicht, und anschließend geht's in Willis Stammkneipe, wo der Onkel Klavier spielt und dazu mit rauher Stimme alte Schlager singt, was die Kneipenbesucher zu stürmischem Beifall hinreißt. Und hätte die Kellnerin Melanie sich nicht gekümmert, wäre Hannes an diesem Tag wohl nie ins Bett gekommen, zumal der Onkel fleißig dem Akohol zugesprochen hatte.

Am nächsten Morgen fahren sie mit der Straßenbahn zu Willis Ex-Frau Gerda, bei der der Onkel einmal in der Woche die Wohnung aufräumt und Besorgungen macht, seit Gerda nicht mehr laufen kann. Auch Hannes muß helfen, und wenn er dabei ungeschickt ist, hält Tante Gerda keineswegs mit ihrer Meinung zurück: „Du stellst dich wirklich zu blöd an.“ Doch irgendwie spürt Hannes, daß sie ihn trotzdem mag.

Wie vielseitig Onkel Willi ist, erkennt Hannes, als sie die maroden Wasserleitungen in der alten Villa der Kammersängerin Franziska Rodenburg reparieren, mit der Willi nach seiner Scheidung liiert war und die ihnen zwei Freikarten für den „Rosenkavalier“ schenkt. Zwar schläft dann Hannes in der Vorstellung am selben Abend ein, aber er begreift, daß der Opernbesuch wohl notwendig war, um die Sängerin nicht zu enttäuschen.

Hannes lernt auch Willis neue Freundin Marion und deren Tochter Sandra kennen, erfährt, wie schlimm Arbeitslosigkeit sein kann, und er wird ganz selbstverständlich in die anstehenden Probleme eingeweiht. Die Ferientage bei dem Onkel gefallen ihm immer besser. Zur Belohnung für seinen Einsatz bei Willis Unternehmungen wird er mit dem Onkel am Wochenende nach Hamburg fahren, zum Fußballspiel Hamburger SV gegen Bayern München, auch wenn die Eltern nun eher vom Kongreß zurückgekommen sind und den Sohn wieder in ihre Pläne einbeziehen wollen.

In Keine Ferien für Jonas muß nicht nur ein Ferienvorhaben umgeplant werden, sondern es ändert sich die Lebensplanung für die gesamte Familie. Jonas' Vater, Techniker in einer Maschinenfabrik, hatte kurz vor Ferienbeginn einen schweren, selbstverschuldeten Verkehrsunfall, als er nach Feierabend noch kurz einmal zur Baustelle fuhr, wo „er für die Familie ein Haus baut“. Letztere distanzierende Formulierung zeigt, wie dieser Hausbau die Familie belastet und auch Anlaß für Auseinandersetzungen ist. Nun liegt der Vater wochenlang im Krankenhaus und wird auf den Rollstuhl angewiesen sein. Als er endlich nach Hause kommt, macht er Pläne, wie das Einfamilienhaus behindertengerecht gebaut werden könnte. Doch die Mutter ist der schweren Belastung - Arbeit in einer Apotheke, Baustelle, Haushalt, Pflege des gelähmten Mannes, Erziehung des Sohnes - kaum noch gewachsen und will das Grundstück mit dem halbfertigen Haus verkaufen, zumal die Baufinanzierung nun auch gefährdet ist.

Jonas fühlt, daß das Gelingen des Bauvorhabens wichtig für den Vater, für dessen Lebensmut ist. Zusammen mit Freunden bringt er ihn zur Baustelle, doch das Baugeschehen ruht, und der Vater verfällt in Depressionen. Jonas muß seinen Eltern helfen, die neue, komplizierte Situation zu meistern, die auch die Ehe gefährdet. Er verhindert den Selbstmord des Vaters. So kommt es zu einem versöhnlichen, allerdings etwas aufgesetzt wirkenden Schluß: Mutter und Sohn begeben sich mit dem Vater im Rollstuhl „zu einem Haus, das noch nicht fertiggebaut ist.“ Und da das an „einem schönen Sommertag“ geschieht, wird das Bauprojekt wohl von ihnen weitergeführt.

Was die beiden Kinderbücher von Günter Görlich so lesenswert macht, ist die Tatsache, daß sie völlig frei von falscher Sentimentalität sind. Die jugendlichen Protagonisten sehen ihre Umwelt, wie die sich für sie darstellt, und gehen den Dingen auf den Grund. Sie bilden sich ihr eigenes Urteil und lassen sich nicht von Vorurteilen beeindrucken. Und sie bringen Verständnis für ihre Mitmenschen auf; so leuchtet Hannes Onkel Willis Meinung ein: „Kann eben keiner aus seiner Haut heraus.“ Wenn man das berücksichtigt, kann man sich anderen gegenüber so verhalten, daß diese doch mal über ihren Schatten springen. Wichtig ist dabei immer, sich für ein harmonisches Miteinander verantwortlich zu fühlen, nicht abzuwarten, daß nur die anderen auf einen zugehen.

Solche Aussage ist schon wichtig in einer Zeit, in der sich soziale Bindungen lockern, in der zwischenmenschliche Beziehungen verschiedener Art in eine Krise geraten. Aber die beiden Erzählungen von Günter Görlich sind keine Nostalgietexte, Onkel Willis Nachbarschaftshilfe und sein Engagement in seinem Lebensbereich wirken nicht wie Reminiszenzen an die „sozialistische Menschengemeinschaft“. Wenn Menschen vernünftig miteinander leben wollen, ist solches Verhalten zwingend notwendig - in Ost und in West. Und die Jetztzeit hat durchaus Einzug gehalten in den beiden Erzählungen. Niemand hat etwas gegen neue elektronische Geräte, bunte Jugendzeitschriften, bequeme Autos und den Wunsch, in einem eigenen Einfamilienhaus oder in einer hellen Wohnung zu leben. Das Problem ist, wie man miteinander lebt, wie man Solidarität entwickelt, damit nicht zu viele zurückbleiben im Verdrängungswettbewerb unserer Gesellschaft.

In diesem Sinne sind Günter Görlichs unterhaltsame Texte moderne Kinderbücher unserer Zeit, und es lohnt sich, die beiden gut gestalteten Bändchen zu lesen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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