Eine Rezension von Helmut Hirsch

 

Alles ist verwandelbar

Stefan Beuse: Wir schießen Gummibänder zu den Sternen

Kurze Geschichten. Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 1997, 154 S.

Der dreißigjährige Stefan Beuse schießt Gummibänder zu den Sternen. Das klingt bombastisch, ist aber ganz harmlos. Denn er liebt Märchenfeen. Aber die haben es ihm nicht nur in guter, leider auch in gegenteiliger Hinsicht angetan. Denn, schreibt Beuse in seinem Vorspruch zu seinen kurzen und auch etwas längeren Geschichten, er glaube, „daß tschechische Märchenfilme mein Leben zerstört haben. In bezug auf Frauen jedenfalls haben sie mich total versaut: Nach Drei Nüsse für Aschenbrödel wußte ich genau, wie das Mädchen aussehen mußte, das ich heiraten wollte. Und seit Die kleine Meerjungfrau wollte ich keine mehr“.

Was blieb, im Herzen und im Gedächtnis des Erzählers: die Sehnsucht, das Heimweh. Wonach? Selbstverständlich „nach einer Prinzessin mit rotbraunen Haaren und einer Haut wie Porzellan; nach einer Stimme wie Samt und grünen Augen, die einen vom Meer aus anblicken und sagen: Komm mit. Laß alles liegen und frag nicht. Komm einfach mit“.

Das ist der Schlußsatz vom Anfang, sozusagen vom Prolog eines Erzählers, der dies ganz direkt an den Leser gerichtet hat nach alter Märchenerzählerart: Komm einfach mit. Das Mitkommen wird auch im ersten Text ganz unmittelbar fortgeführt. Auf einer Zugreise begegnet dem Erzähler ein hübsches Mädchen, nach Art einer Seejungfrau. Es ist eine Kellnerin, vielleicht, orakelt der Märchenerzähler, noch voller Hoffnung und reich mit dem Odem Sehnsucht versehen, vielleicht ist diese schöne Kellnerin demnächst Wirtschaftsminister. Nicht nach dem Warum wird hier gefragt, hier gilt das Als-ob. Und mittendrin werden all die Fragen gestellt, die sowohl in der wirklichen als auch in der Märchenwelt beantwortbar scheinen. Der vielleicht schönste Wirtschaftsminister, den wir je kannten, führt das wenig gehörte Wort „Altruismus“ ein. Im Text heißt es: „Altruismus bedeutet Selbstlosigkeit, sich für andere aufopfern, sagte sie, und es waren noch zwei Stationen, dann mußte ich aussteigen.“ Der das hört, und es ist ja nicht von Pappe, dem geht etwas durch den Sinn, er erlebt schon etwas von möglicher Welt. Denn als der Erzähler, der wie im richtigen Märchen auch hier der Erwartende ist, aus dem Zug steigt, „hatte die Welt eine andere Farbe“.

Wer sich nach solchen Welten sehnt, kann aber nicht immer einfach aus dem Zug aussteigen und annehmen, nun ist die Kellnerin doch der neue Wirtschaftsminister geworden. Und eine Sentenz wie: dieser Minister (diese Ministerin werden Feministinnen korrigieren!) ist 28 Jahre alt und hat immer ein Lexikon bei der Hand, genügt nur dem, der anhaltend träumt. Was er nach dem Willen des Erzählers auch unbedingt nicht lassen soll, denn er wird zum Schluß dieser Geschichte hinreichend belehrt: „Ihr solltet das wissen, falls Ihr vorhabt, das Land zu verlassen. Es lohnt sich zu warten.“

Nein, es ist keine alte, erinnerte Ostgeschichte. Aber eine, die, wie alles, was gelungen scheint, auch diese Vergangenheitsideen mitnimmt.

Es geht in diesem apart gestalteten Band der neuen Reclam-Reihe „lesart“ häufiger um das alltägliche Leben und um Erinnerungen aus der Kindheit des Erzählers. Sie sind eingetrübt, überschattet von behindernden Ereignissen. Da tötet der Großvater die Mäuse im Garten, was das Mitleid der Kinder mit der Kreatur erweckt. Das ist so stark erlebt, daß auch der Großvater von seinem Tun abläßt, keine Mäuse mehr tötet und den beiden Kindern je ein Meerschweinchen kauft. Eine ganz andere Kindheitserinnerung tischt der Erzähler auf, als er davon berichtet, wie er mit sieben Jahren eine Schmalfilmkamera geschenkt bekam und Film um Film belichtete. Er filmte nicht nur die Verwandschaft beim Kuchenessen, er „zoomte ganz nah auf ihre Münder“, doch gerade das wollten alle gar nicht so genau sehen. Überhaupt ist diese köstliche und vielleicht beste Kurzgeschichte des ganzen Bandes auf diese Gegensätze zugespitzt. Nur nicht zu nahe ran an die Wirklichkeit, wenn's mit einer etwas oberflächlicheren, nicht so genauen eben auch geht. Der alltäglichen Verlogenheit beizukommen, hier wird“s wunderbar, und da verläßt der Erzähler auch bereits das Märchen und seinen Erzählstil. Er weiß, daß er mit der Kamera etwas in der Hand hat, womit er etwas ausrichten kann. Er benutzte die Kamera „als Waffe: Ich rächte mich an meiner Verwandschaft für all die Sonntage mit Käseschnittchen in überheizten Wohnzimmern, für Cindy und Bert und immer wieder sonntags. Ich zerstückelte ihre Körper, Mund für Mund, Achsel für Achsel, Torte für Torte. Keiner von denen, die mich umgaben, kam lebend davon.“

Kindheit, ein Thema, das lange anhält, auch in diesem Erzählband. Was waren da nicht alles für wunderbare Gerüche, an die man heute nur denken muß, schon stellen sie sich wieder ein. Für den Erzähler in der Geschichte „Einer gegen alle“ waren das der Geruch von Tonbandspulen, Hasenbraten, Super-8-Filmen, leergetrunkenen Plastikflaschen, Turnmatten und der Geruch eines Mädchens.

Steigerungen der Sehnsucht können aber ins Gegenteil umkippen. Das Mädchen, das er liebt, vermittelt ihm auch die Erkenntnis, daß „die Sehnsucht kein Ort ist, sondern nur das Echo einer Stimme“, weil er weiß, daß die Erfüllung dieser Sehnsucht ihn „nicht erlöst hat, sondern auffrißt“.

Es sind weitere gelungene Texte in diesem Band, worin der Erzähler sehr gut beobachtet hat, wie eine weitfliegend wunderbare Sache, zum Beispiel ein modernes Luftkissenboot, das die Reisenden schnell von Italien nach Griechenland befördert, auch eine Kehrseite vorzuweisen hat. Hier schöne Videobilder, daneben und ganz unmittelbar die häßliche Wirklichkeit einer stürmischen Überfahrt. So sind alle Ideen, Denk- und Bildachsen komponiert. Und die immer wieder auftauchende Sehnsucht im Meer der Schiffbrüchigen drückt es auch deutlich genug aus: Immer will der Mensch von etwas weg, zu etwas anderem hin, dazwischen gibt es das abenteuerliche oder von Langeweile zerquälte Verweilen. Thematisch heißt das für Stefan Beuse viel. Sein kontrastreiches Erzählen beschreibt Orte der Not, der Erwartung, der Angst, der Monotonie. Von einem Schwangerschaftstest oder einer Vergewaltigung vermag er minutiös zu erzählen, aber auch vom Praktikum in einer Rahmenwerkstatt. Nicht in jeder Kurzgeschichte reicht die Spannung aus, um den Leser und Rezensenten auf die nächste Geschichte neugierig zu machen.

Stefan Beuse ist ein geschickter Erzähler. Wo der eigene Erlebnisstoff nicht mehr genügend Kraft und Anschauung hergibt, erinnert er sich an das, was andere erinnert und erzählt haben. Längst ahnt der Leser etwas, und spätestens in der zweiten Hälfte des Bandes wird es unübersehbar. Hier geht der Geist der Beatniks um, Jack Kerouac ist anwesend, vielleicht auch eine Kindheitslektuüre von Stefan Beuse. Sehnsucht und Hast, Flucht und ungebremstes Unterwegssein, die „Beat generation“ tönt kräftig nach, oder lebt sie noch immer oder schon wieder auf? Sicher: Alles trifft hier zu. Denn dem Erzähler und seinen Figuren geschieht Seltsames (wie im Märchen), Banales (wie im Alltag), Unbegreifliches. Leider wächst im Laufe der Geschichten die Neigung zum Halbgewalkten in den Dialogen, wuchern grellere Bilder, tönen jähe Akkorde. Die ruhelosen, enttäuschten Seelen haben ihr Urerlebnis, zumeist war es die Stunde im Sportunterricht, wo man nur zähneknirschend in die Mannschaft der letzten Wahl kam. Doch immer gibt es wieder dieses blinde Sichhineinstürzen in Abenteuer, die Sehnsucht nach Geborgenheit in den Armen der Märchenfee, zugleich aber der quälende Aufenthalt auf Partys, die Langeweile unter Ballspielern und Computerfreaks.

Sie bleiben alle mit ihrer Sehnsucht allein, der Maler, der sein Modell schwierigen Situationen aussetzt, weil er nicht genau weiß, wie die richtige Situation für das beabsichtigte Bild beschaffen sein muß, das Mädchen, das in der Kindheit vom Klavierlehrer mit Kreutzer-Etüden gequält wurde, und nun, in Paris vor dem Grabstein Kreutzers stehend, nur zu einer eindeutigen Fußbewegung in der Lage ist.

Der letzte, größere Text des Bandes - „Indianerausstellung“ betitelt - ist eine Hommage für Jack Kerouac. Gegenstände einer Ausstellung wechseln mit Bildern, Assoziationen, seltsam eingefärbten Abenteuern. Ein wilder Strudel der Ereignisse, die ineinander übergehen, vom Erdboden abzuheben scheinen. Hier ist alles wandel- und verwandelbar, in den Bildern und Figurenspielen der Beatniks glüht Phantastik, schmort Wirklichkeit. Nach reichhaltigem Wirbel, nach Stillstand und gelegentlich auch platter Imitation findet der erste Prosaband von Stefan Beuse seinen Abschluß. Mit „Untergang“ überschrieben, klingt er so: „Es ist egal, in welche Richtung wir schwimmen. Das Ufer ist in jeder Richtung zu weit.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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