Wiedergelesen

 

Erich Loest: Der Abhang

Roman.
Verlag Neues Leben, Berlin 1968, 486 S.

 

Der Roman Der Abhang findet auch in neueren Literaturgeschichten oder -lexika allenfalls in dortigen Werkverzeichnissen Erwähnung; dem Autor, Erich Loest, ein deutsch/deutscher Schriftsteller mit bald 40jährigem Berufsjubiläum, wird ein gediegenes Erzähltalent bescheinigt. Aufschlußreicher sind solche Anmerkungen, die sein vielfältiges und umfangreiches literarisches Lebenswerk, Brüche und Kehrtwendungen in seiner Biographie belegen. Erich Loest selbst legte in seinem ,Lebenslauf‘ Durch die Erde ein Riß darüber Zeugnis ab. Über diesen autobiographischen Deutungsversuch schrieb ich für das „Berliner LeseZeichen“, Heft 1/95 „Nachtrag zum Gespräch mit Erich Loest“. Dieser Information ist eine Berichtigung hinzuzufügen, die mir unerläßlich erscheint, nachdem ich den Roman Der Abhang wiedergelesen habe. Die Rezension „Nachtrag ...“ enthält ein nicht werkgerechtes, ein kurzschlüssiges Urteil: Die Zeit der Kindheit und Jugend verlebt Loest in der sächsischen Kleinstadt Mittweida. Es ist seine Zeit als Hitlerjunge und Hitlerjungenführer. Mit 17 Jahren wartet er ungeduldig auf seine Einberufung, mit 18 Jahren ist er Soldat und mit 19 Werwolf - im tiefen Glauben an den Führer und von „heldischer Idiotie“. Nach dem Ende des Hitler-Reichs holt er das Abitur nach, tritt in die SED ein, wird Parteiarbeiter für die sozialistische Presse. Sein Kommentar über den flink umgewandelten Hitlerjungen ist: „Februar 1945: Wir werden siegen, weil wir den Führer haben! Februar 1946: Nie wieder Krieg! Februar 1947: Brüder, in eins nun die Hände! Verwirrend genug.“ Ich glaubte, diese Kommentierung vor knapp drei Jahren ironisch werten zu können. Richtig ist, Loest kontert, wenn auch zugespitzt, den in seiner Jugend nicht bewußt erfaßten problematischen Übergang von einem jungen gläubigen Nationalsozialisten zu einem gläubigen SED-Mitglied. Diese wendige Zeit konnte Loest erst Jahrzehnte später öffentlich-literarisch reflektieren, nachdem seine Biographie diesesmal durch sozialistische Machthaber erneut beschädigt worden war und er endgültig von der DDR Abschied genommen hatte. Er reflektierte auf diese Weise, seine einstige „Unfähigkeit zu trauern“. (Alexander Mitscherlich hatte diese „Unfähigkeit“ 1967 in seiner Lehre vom menschlichen Verhalten in der Gesellschaft analysiert.) Denn Erich Loest führt in seiner Autobiographie als „Chronist“ den Fall eines Mannes in der DDR vor, der sich trotz angedrohter Konsequenzen davor bewahrte, als bekehrter gläubiger Antifaschist mit aussichtsreicher SED-Karriere neue Schuld beim Aufbau des Sozialismus unter stalinistischen Bedingungen auf sich zu laden. Statt Teilhabe an der Macht verlangte er Kontrolle der Mächtigen und landete von Dezember 1957 bis September 1964 als „politischer Schwerverbrecher“ im Zuchthaus.

Den Roman Der Abhang habe ich, nun wissend und nochmals nachdenkend um Loest's Biographie und seiner unbestechlichen moralischen Rigorosität, nicht wie vor Jahren als verspätetes literarisches Werk der DDR-Kriegsliteratur gelesen, sondern als Abrechnung mit allzu schnellen ideologischen Häutungen von Menschen um der Macht willen, nicht nur in seiner Generation. Vor einigen Jahren war für diesen Vorgang das Wort „Wendehals“ stark im Umlauf.

Diese Überlegung bestätigte sich mir, als ich seinen ersten Roman Jungen, die übrig blieben (1950) im Vergleich ebenso nochmals las. Die Hauptgestalten beider Romane sind junge, an Hitler fest glaubende Wehrmachtssoldaten. In dem frühen Roman versinkt der Held, Walter Uhlig, nach dem Zusammenbruch seiner faschistischen Illusionen in melancholischen Nihilismus. Doch der Autor zeigt ihm einen Ausweg. Dies geschieht über eine DDR-Aufbauszene, die geradezu vor naivem Sendungsbewußtsein strotzt. Uhlig nimmt die Erleuchtung an und bejaht das neue Leben ...

In Der Abhang erzählt Erich Loest mit Trauer und Konsequenz den Entwicklungsweg eines Jungen aus einem Leipziger Arbeiterviertel zum fanatischen Nationalsozialisten bis zu seinem bitteren Ende: Im Verlauf von etwa 10 Monaten verstrickt sich diese Hauptfigur, Harry Hahn, in tiefe Schuld. Er wird zum Handlanger und schließlich zum Komplizen von SS-Verbrechen.

Die Handlung des Geschehens setzt im Sommer 1944 ein. Nach einer vierwöchigen Schlacht sind die südöstlichen Gebiete in Polen für die deutschen Faschisten verloren. Der 17jährige Hahn wird zu dieser Zeit als letztes Aufgebot für den „Endsieg“ militärisch ausgebildet. Im Wehrertüchtigungslager Schneckengrün bei Plauen erscheint der SS-Untersturmführer Pausig. Von dem Ausbilder verlangt er, daß sich von den 150 Rekruten binnen weniger Stunden 60 „freiwillig“ zur Waffen-SS melden. Ein mörderisches Schleifen der Jungen beginnt. Der Abhang einer Kiesgrube wird zum Kessel, diese für die Unterschrift weichzukochen. Während des stundenlangen Hinauf- und Hinabhangelns bleiben einige auf der Strecke. Harry hält lange durch. Er hat wegen seines Vaters, einem ehemaligen SPD-Mann, Skrupel, in die SS einzutreten. Fast am Ende seiner physischen Kraft gibt er auf - „für ein Linsengericht“. Mit anderen Rekruten wird er am nächsten Tag zum SS-Regiment „Germania“ abkommandiert. In Deutschland stehen inzwischen die Amerikaner kurz vor Aachen. Der Krieg geht seinem Ende zu. Das Regiment erhält den Befehl, den Plan „Hinterhalt“ auszuführen. Er sieht den Rückzug in die Wälder der Hohen Tatra vor, um von dort aus gegen durchziehende sowjetische Armeeinheiten und slowakische Partisanenverbände zu operieren. Der 23jährige Untersturmführer Scheffke ist Harry Hahns „Führer“. Ein SS-Mann, der nie „den Arsch hängen läßt“, wie sein Vorgesetzter, Obersturmbannführer Lukan, bewundernd von ihm erzählt. Harry haßt Scheffke wegen seines Schleifens und seiner Schikanen während der Ausbildung, die mit dem Marsch in die Bergwälder endet.

Sein erstes SS-Erlebnis erschreckt ihn noch: Ein slowakischer Bauer mit einem Butterfäßchen im Rucksack taucht auf. Seine früheren Rekrutenkameraden erschießen ihn hinterrücks. Harry fragt vorsichtig nach, ob der Mann wirklich ein Partisan gewesen sei, dann schweigt er. Es ist der Anfang, daß er sich dem mörderischen Alltag anpaßt. Seine inneren Monologe über das Für (bessere Verpflegung) und Wider (bloß nicht zuviel sagen und fragen), Mitglied der Waffen-SS zu sein, werden immer seltener. Als schließlich Scheffkes Kaltblütigkeit während eines Gefechts mit einer sowjetischen Panzereinheit sein Leben rettet, ist Harry froh, daß er „bei Scheffke“ ist. Eine Warnung seines früheren Freundes, der inzwischen in einem Strafbataillon ist, schiebt er von sich: „... Erschossene Juden und Kommissare - dieses Regiment hatte jedenfalls nichts damit zu tun. Blieb außerdem noch die Frage, ob es stimmte, was Ralf da gehört haben wollte. Schliff - der war vorbei, und es war fraglich, ob man sie bei der Wehrmacht sanfter angefaßt haben würde. Jetzt stand er im Kampf, und da gab es keinen besseren Führer als Scheffke.“ (S. 230/231) Scheffke wird Harrys Idol: „Er wollte in jedem so sein wie Scheffke und wußte, er würde es können, wenn er an dessen Seite lag.“ (S. 244) Er bleibt an seiner Seite bei Überfällen auf slowakische Dörfer, bei Vergewaltigungen von Frauen und Erschießungen von Männern und Kindern. Eine letzte ungewisse Furcht läßt ihn wünschen, daß der Krieg nie zu Ende geht. Aber die Rote Armee ist schon bis zur Oder vorgerückt, die Amerikaner stehen am Rhein, und das SS-Regiment „Germania“ besteht nur noch aus einigen zerlumpten und hungernden Offizieren, Hahn ist der letzte von den ehemaligen Schneckengrüner Rekruten. Die Lebensmittelversorgung ist längst abgebrochen; Plünderungen und Morde geben das tägliche Brot. Im Tal schließen sich bereits aufgelöste slowakische Partisanenverbände gegen die „Werwolf-Bande“ erneut zusammen. Die Wälder bieten daher für die Bande keinen Schutz mehr. Es kursiert auch das Gerücht (Lukan hatte die Radiomeldung vor Wochen verschwiegen), daß der Krieg vorbei sei. Die SS-Männer planen ihre Flucht nach Bayern, wo sie in einem Kriegsgefangenenlager als versprengte Wehrmachtssoldaten untertauchen wollen. Auf dem Weg dahin schlagen Angst und Haß noch einmal in einen Mordrausch um. An der Grenze zu Polen erschlagen Harry und Scheffke mit Spaten eine Gruppe slowakischer Gefangener. Einer von ihnen bittet um sein Leben, weil er doch „Volksdeutscher“ sei, doch Harry schreit lachend: „Wer Deutscher ist, bestimmen immer noch wir.“ (S. 476) Danach erhält er den Auftrag, von einem Berg aus ein Tal für die Sondierung des weiteren Fluchtwegs zu sichern. Scheffke verweigert ihm ein zweites Munitionsmagazin. Frierend und hungernd wartet Harry Hahn vergeblich auf die Rückkehr seiner „Kameraden“. Die plötzliche Einsamkeit nagt am stärksten an ihm. Nach zwei Tagen und Nächten erschießt er sich auf verlorenem Posten. In das Tal zurückkehrende Partisanen, die einst in seiner Gewalt waren, finden ihn. Sie bauen aus Ästen und Steinen ein namenloses Grab. „,Wenigstens können die Füchse nicht an die Leiche heran‘. Das war das letzte, was über Hahn gesprochen wurde.“ (S. 486)

Der Kriegsroman Der Abhang fand auf dem DDR-Büchermarkt kaum Resonanz. Er ist 1968, vier Jahre nach Loests Haftentlassung, erschienen. Ich erinnere mich aber auch daran, daß das Thema auf kein großes Interesse stieß. Ich las es, weil der Klappentext mich an das Buch von Remarque Zeit zu leben und Zeit zu sterben erinnerte. In vieler Munde waren in diesem Jahr einige DDR-Gegenwartsromane. Vor allem über Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. wurde heftig diskutiert. Und es war jenes Jahr, in dem von Anna Seghers Das Vertrauen, von Günter de Bruyn Buridans Esel, von Werner Heiduczek Abschied von den Engeln und von Alfred Wellm Pause für Wanzka erschienen waren. In diesem Jahr 1968 deutete sich so etwas wie eine literarische Neuorientierung an: Die genannten Romane gingen von der DDR-Gegenwart als Selbstverständlichkeit aus. Und sie eröffneten einen Fragenkatalog nach der Realität der von der SED verkündeten revolutionierten, „neuen“ Lebensformen in der sozialistischen Gesellschaft und nach ihnen entsprechenden individuellen Verhaltensweisen. Man war im DDR-Alltag angekommen, es war unser Leben, und es waren unsere Fragen.

Erich Loest hingegen machte mit seinem Buch Der Abhang erneut darauf aufmerksam, daß die Epoche des Faschismus nicht als erledigte Vorgeschichte hinter der DDR-Alltagsrealität abzuhaken ist. Es waren wohl die erlittenen politischen Erfahrungen, die ihn zu diesem literarischen Versuch der Aufklärung über den Zusammenhang von Macht und Schuld, über Täter und Opfer drängten. Dieses Thema für einen Gegenwartsroman zu formen, eine systemspezifische Analogie nach der Essenz „Stalinismus in den Farben der DDR“ zu schreiben, war in den sechziger Jahren in der DDR unmöglich, für Erich Loest ganz gewiß. Dies taten DDR-Autoren wie Christoph Hein (Horns Ende) oder Wolfgang Hilbig (Eine Übertragung) erst fast zwei Jahrzehnte später.

Beate Reisch


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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