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Der Verfasser des Textes, Friedhelm Sroke, ist Mitglied der Treptower Schreibwerkstatt. Im Rahmen einer Hausarbeit sollte jeder Teilnehmer seine Gedanken zum Thema „Erlebnisbibliothek“ zu Papier bringen. Wie die Bibliothek von morgen aussehen könnte, schildert uns der Autor im folgenden.

Die Erlebnisbibliothek

Die Globalisierung des Marktes geht auch an den Bibliotheken nicht spurlos vorüber. Die ihnen zugewiesenen Mittel vom Staat werden jährlich immer knapper, und ihre Angestellten müssen sich immer mehr einfallen lassen, um die sich verändernden Ansprüche ihrer umkämpften Besucher zu befriedigen, wenn sie die drohende Schließung ihres geliebten Arbeitsplatzes verhindern wollen.

Und die Angestellten haben sich schon eine Menge einfallen lassen: Die Bewohner des jeweiligen Kiezes identifizieren sich mehr mit ihren Bibliotheken, wenn sie ihnen ihre alten Bücher zur Verfügung stellen. So werden die Ausgaben für Neuanschaffungen gespart. Natürlich sind nicht alle diese Bücher für die Ausleihe geeignet. So werden sie regelmäßig auf Basaren gegen kleine Spenden verschenkt. Diese Basare locken regelmäßig viele neue Besucher an, von denen einige wiederum Stammnutzer werden. Drei Büchereien im Wedding und Tiergarten bieten ihren Nutzern im Sommer ein kleines offenes Gärtchen innerhalb ihres Gebäudekomplexes zum Verweilen an, die Hansa-Bücherei wartet sogar mit Liegestühlen und einem kleinen Springbrunnen auf. In vielen Büchereien gibt es inzwischen Getränkeautomaten für das leibliche Wohl der Besucher. Büchereien haben sich schon lange zu Informations- und Kommunikationsstellen entwickelt. An Pin-Tafeln bieten Menschen Unterricht, Sachentausch und Veranstaltungshinweise aller Art an, die auch andere Kulturinstitutionen nutzen. Wenn jemand also jemand anderen kennenlernen will, braucht er sich nur in die nächste Bibliothek zu begeben. In unserer kontaktgestörten Zeit ist so ein Angebot nicht zu verachten. Abends, nach den üblichen Öffnungszeiten, bieten einige Bibliotheken Lesungen oder sogar Konzerte an. Viele Bibliotheken haben ihr Angebot entsprechend dem Zeitgeist ergänzt.Schon lange kann man Videocassetten und Spiele ausleihen. In manchen stehen schon PC mit Internetanschluß zur Verfügung. Die Heinrich-Böll-Bibliothek in der Greifswalder Straße lockt mit einer Spiel- und Krabbelecke die Jüngsten als zukünftige Nutzer an.

Der Hauptzweck aller Berliner Bibliotheken ist aber nach wie vor noch, Bücher auszuleihen, wofür der werte Nutzer inzwischen 20,— DM pro Jahr berappen muß. Werden die Bücher später als zum vorgesehenen Termin zurückgegeben, wird die Ausleihe noch teurer.

Aber trotz allen Engagements der Angestellten ist die Existenz der Bibliotheken immer mehr gefährdet. Die Ansprüche des Publikums ändern sich immer schneller, und es wird immer schwieriger, sie zu befriedigen. Wie soll die Zukunft der Bibliotheken aussehen? Vielleicht so: Die Bibliotheken werden wie andere Einrichtungen privatisiert, d.h. ihr Hauptzweck wird es, im harten Konkurrenzkampf Gewinne zu erwirtschaften. Zunächst werden sie an Sponsoren verkauft. Sie müssen Werbung für Dinge machen, mit denen sie nicht das geringste zu tun haben, z.B., daß man nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus den USA unter Alkoholeinfluß schneller Fremdsprachen lernt. Die Büchereien werden in Erlebnisbibliotheken umgewandelt. Da sowieso nur noch eine Elite zu Büchern greift, die es sich auch leisten kann, welche zu kaufen, werden diese aus den Regalen entfernt und durch Bildschirme ersetzt. Die meisten Menschen sitzen sowieso schon ihre größte Zeit vor Glotzen ab - und das ganz freiwillig. Dank der modernen Kabeltechnik können die neuen Bibliothekennutzer bis zu 250 Programme gleichzeitig sehen und soviel aufnehmen, wie sie wahrnehmen können, also nichts, und das ist genug, um die neue moderne Konsumwelt richtig genießen zu können. Ab und zu wird zentral wie in Superkaufhäusern Werbung übertragen und für das abendliche Fernsehprogramm geworben. Über Internet kann dann alles direkt bestellt werden. Geldanleger können das Geschehen an den Börsen weltweit verfolgen und entsprechende Dispositionen treffen. Für eventuelle Nervenzusammenbrüche aufgrund von Aktienstürzen stehen Rote-Kreuz-Stationen und vor den Bibliotheken Rettungswagen bereit. Wer aber nach wie vor Bücher oder Zeitungen lesen will, kann das über PC tun. Der Inhalt vieler Bücher wird außerdem auf CD gesprochen und findet so eine viel größere Verbreitung. Des weiteren wird es in den Erlebnisbibliotheken Imbißstuben und im Keller Bars mit abendlichen Striptease-Shows geben. Sie locken ein Publikum an, von dem die altmodisch geführten Bibliotheken noch nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Die Erlebnisbibliotheken werden rund um die Uhr geöffnet sein. Die Kinderbibliotheken mit Kinderbetreuung werden die Schließung von Kindertagesstätten kompensieren. Das Fachpersonal aus den großen Industriebetrieben bildet sein Personal und seine künftigen Konsumenten aus, so daß auch Schulen überflüssig werden.

Das Tollste ist aber, daß die Erlebnisbibliotheken der Zukunft weiterhin ohne Eintrittsgelder betrieben werden und sich nicht nur ökonomisch selbst tragen können, sondern darüber hinaus Geld erwirtschaften. Dafür wird z.B. an Spielautomaten gedacht, an denen die Besucher selbst entscheiden können, ob sie es riskieren wollen, Geld hierzulassen oder nicht. Wie im richtigen Leben auch werden einige wenige glückliche Besucher die Bibliothek sogar reicher verlassen, als sie sie betreten haben. Der Wirtschaftssenator erwartet, daß die modernen Erlebnisbibliotheken bald die altmodischen Eckkneipen als Treffpunkte im Kiez verdrängt haben, und lockt dafür neue Investoren mit den Mitteln an, die er den alten Bibliotheken entzogen hat.

Friedhelm Sroke


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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