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Hans-Joachim Beeskow

„Von der Kostbarkeit des Menschen ...“

Zum Leben und Werk des Schriftstellers und Pfarrers Kurt Ihlenfeld

 

Am 25. August 1997 jährte sich zum 25. Mal der Todestag von Kurt Ihlenfeld, der als Schriftsteller mit zu den führenden Vertretern der protestantischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehört. Seine letzte Ruhestätte befindet sich auf dem Städtischen Waldfriedhof an der Potsdamer Chaussee in Berlin-Zehlendorf.

Die Wiege von Kurt Ihlenfeld stand im elsässischen Colmar, wo er am 26. Mai 1901 geboren wurde. Die Schule besuchte Ihlenfeld in Bromberg. Anläßlich der „Ehrengabe des Andreas-Gryphius-Preises“, die Kurt Ihlenfeld im Jahre 1971 vom Bundesland Nordrhein-Westfalen überreicht wurde, schrieb er eine kleine (im Dortmunder Verlag Wulff & Co. 1972 veröffentlichte) Geschichte Bromberg 1914, in der er sich an seine Bromberger Schulzeit erinnert.

Weitere Lebensstationen führten Kurt Ihlenfeld nach Breslau und Greifswald. Hier studierte er Theologie und Kunstgeschichte. In Breslau lernte Ihlenfeld auch Jochen Klepper (1903- 1942) kennen, der ebenfalls an der dortigen Universität Theologie studierte und mit dem er Zeit seines Lebens befreundet war. Später (1958) schrieb Kurt Ihlenfeld in seinem Essay über die Freundschaft mit Jochen Klepper u. a.: Wir befanden „uns in einer merkwürdigen, schwer zu beschreibenden Übereinstimmung ... hinsichtlich dessen, was wir an Martin Luther erkannt und gewonnen zu haben meinten. Es war in dem vielen Abgeleiteten, womit die Theologie sonst belastet war, die Erfahrung eines Tief-Ursprünglichen, das sich nun auch ursprünglich aussprach: Wir waren ja zugleich empfänglich für das dichterische Wort, wir lebten weniger aus dem Studium wissenschaftlicher Untersuchungen historischen oder exegetischen Charakters, wir sogen den Honig der Wahrheit aus einer wissenschaftlich vielleicht sehr unzulänglich durchgearbeiteten Erkenntnis, die sich uns eben noch von woanders her erschloß als aus der Wissenschaft allein: Luther selber sprach zu uns über die Jahrhunderte hinweg als ein Lebendiger ...“

Am 7. Juli 1923 wurde Kurt Ihlenfeld an der Greifswalder Universität zum Dr. phil. promoviert. Seine Dissertation war dem Thema „Die mittelalterlichen Grabsteine in Mecklenburg und Vorpommern“ gewidmet. Nach seinem 1. theologischen Examen und dem anschließenden Vikariat wurde Ihlenfeld am 12. April 1928 in der Breslauer St.-Maria-Magdalenen-Kirche zum Pfarrer ordiniert. Im gleichen Jahr heiratete er Anni Stuhlmann, die Tochter eines Hamburger Kaufmanns. Nach seiner Ordination übernahm Kurt Ihlenfeld das evangelische Pfarramt in der schlesischen Bergarbeiterstadt Waldenburg. Hier wurde am 13. Juli 1930 seine Tochter Christa - später (1958) verehelichte: Ortleb - geboren, der der Verfasser dieses Beitrages für viele Hinweise sehr dankbar ist. Ein Jahr später wurde Kurt Ihlenfeld Pfarrer der kleinen Gemeinde Berndorf (ehemals Kreis Liegnitz, heute Polen). Neben seiner pfarramtlichen Tätigkeit schrieb K. Ihlenfeld u. a. für die „Schlesische Kirchenzeitung“, und von hier aus ergaben sich bald die ersten Kontakte auch nach Berlin zu der seit 1905 bestehenden Literaturzeitschrift „Eckart“.

Als der Verlagsleiter dieser Zeitschrift, Harald Braun, im Jahre 1933 sein Amt aufgab, wurde Kurt Ihlenfeld als sein Nachfolger bestimmt. Nach der Übernahme der Verlags- und Redaktionsleitung, die ihren Sitz in der Beymestraße (Berlin-Steglitz) hatte, erklärte Ihlenfeld, das evangelische Profil dieser Zeitschrift müsse deutlicher hervortreten. Es „ist nicht zu übersehen, daß das Evangelische keine freischwebende, unverbindliche Religiosität darstellt; es hieße, den wichtigen Vorgang im evangelischen Bereich verleugnen, wenn wir an der Erneuerung des reformatorischen Glaubens und Denkens vorbeigehen wollten ...“

Als ein geistiges Zentrum gegen den Nationalsozialismus gründete Kurt Ihlenfeld im Jahre 1933 den Eckart-Kreis, zu dem u. a. Rudolf Alexander Schröder (1878-1962), Otto Freiherr von Taube (1879-1973), Ricarda Huch (1864-1947), Ina (1885-1974) und Heinrich Wolfgang Seidel (1876-1945), Werner Bergengruen (1892-1964), Gertrud Freiin von Le Ford (1876-1971), Reinhold Schneider (1903-1958), Joseph Wittig (1879-1949), August Winnig (1878-1956), Jochen Klepper (1903-1942), Siegbert Stehmann (1912-1945), Otto Gmelin (1886-1940) und Albrecht Schaeffer (1875-1950) gehörten.

Den Vorwurf von Thomas Mann (1875-1955), die Mitglieder dieses Kreises seien allesamt „Ofenhocker“ gewesen, denen der Mut zur Auswanderung und zum Leid des Exils fehlte, hat Kurt Ihlenfeld energisch zurückgewiesen: „... als ob die Handhabung des Wortes im Raume der Diktatur einfacher gewesen wäre als in der Fremde anderssprechender Nationen! In der Fremde befanden wir uns auch daheim ... Auch die Literatur hat damals so etwas wie ihren 20. Juli gehabt.“

Die Nazis verboten die Zeitschrift „Eckart“. Im September 1943 erschien das letzte Heft, auch das Verlagsgebäude in der Beymestraße brannte aus. Kurt Ihlenfeld mußte sich eine andere Tätigkeit suchen. Von Berlin aus verwaltete er das Pfarramt der St.-Moritz-Kirche im märkischen Mittenwalde, an der einst der von Kurt Ihlenfeld verehrte Paul Gerhardt (1607-1676) als Propst und Inspektor der umliegenden Gemeinden von 1651 bis 1657 gewirkt hatte. Ein Jahr später - am 1. September 1944 - übernahm Kurt Ihlenfeld die Pfarrstelle im schlesischen Pilgramsdorf (ehemals Kreis Goldberg, heute Polen). Hier erlebte Kurt Ihlenfeld gemeinsam mit seiner Familie das Näherrücken der Roten Armee. Diese Erlebnisse bilden den Hintergrund seines ersten Romans Wintergewitter, für den er im Jahre 1952 den Fontane-Preis der Stadt Berlin erhielt.

Nach Um- und Irrwegen durch die damalige Tschechoslowakei landete Kurt Ihlenfeld schließlich in Coswig bei Dresden. In der Radebeuler Amalie-Sieveking-Schule wirkte er für kurze Zeit als Dozent für Literatur und Kunstgeschichte. Kurt Ihlenfeld begründete im Jahre 1946 die sächsische Kirchenzeitung „Der Sonntag“ - er wurde ab 16. Mai 1946 ihr erster Schriftleiter - und gehörte mit zu den frühen Mitarbeitern des Kulturbundes, der sich vor allem die geistige Erneuerung in einem demokratischen Deutschland zur Aufgabe gemacht hatte. Kurt Ihlenfeld wurde Mitglied der Kommission Literatur des Dresdener Kulturbundes.

Im Jahre 1949 siedelte er mit seiner Familie nach Berlin über. Vom Pfarrdienst beurlaubt, widmete sich Kurt Ihlenfeld von nun an ausschließlich seiner Schriftstellerei. Des weiteren galt seine ganze Kraft der Wiedereröffnung des Eckart-Verlages und der -Zeitschrift. Statt der Eckart-Zeitschrift erschienen dann - aus vielerlei Gründen - nur noch Jahrbücher. Als der Berliner Eckart- und der Wittener Luther-Verlag fusionierten (1950), erhielt Kurt Ihlenfeld eine neue Basis für die Verlagsarbeit. Fast alle seine Schriften sind hier veröffentlicht worden.

Aus gesundheitlichen Gründen zog sich Ihlenfeld im Jahre 1962 vom Verlag zurück, hatte er doch bereits im Jahre 1955 einen schweren Herzinfarkt erlitten. Nach einem vierteljährlichen Aufenthalt im Baden-Badener Krankenhaus konnte er sich nur noch mit reduzierten Kräften seiner schriftstellerischen Arbeit widmen. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit versammelte er weiterhin in seinem Zehlendorfer Haus, Heimat 85, „große Gesellschaften mit vielen Gästen, spätberlinische ,Salon‘-Veranstaltungen, wo immer musiziert wurde und der Hausherr seine Ansprache hielt.“ Dennoch wurde es stiller um Kurt Ihlenfeld. Seine Bücher wurden inner- und außerhalb der Kirche weniger gelesen und verstanden.

Kurt Ihlenfeld litt ganz offensichtlich an der bundesdeutschen Selbstzufriedenheit, an der Uninteressiertheit am deutschen Osten und den Menschen, die von dort kamen. Kurz vor seinem Tod schrieb er in einem Gedicht, das in der Nacht vom 30. zum 31. Juli 1972 entstand:

„Groß geht die Sonne auf, Stern unter Sternen,
die alle in dem größten Licht vergehen.
So werden wir auch, alle, einmal lernen,
die Todesnacht als Morgen zu verstehen.“

Knapp vier Wochen später - am 25. August 1972 - erlag Kurt Ihlenfeld in einem Berliner Krankenhaus einem weiteren Herzinfarkt; in jener Stadt also, der er in einigen beachtlichen Büchern, wie zum Beispiel Loses Blatt Berlin und Stadtmitte ein dichterisches Denkmal setzte.

Joachim Günther, ehemaliger Herausgeber der Literaturzeitschrift „Neue deutsche Hefte“, schrieb in einem Nekrolog über Ihlenfeld:

Für ihn war das Christentum die „große Sache“ seines Lebens. „Für die Kirche direkt vielleicht nicht, aber für die Stunde oder Unstunde des Christentums hat dieser Literat in drei Zeitaltern Wichtigeres geleistet als die Mehrzahl der Profis in Amt und Theologie. Immerhin ist ihm zum 70. Geburtstag noch mit dem D. (d. h. mit der theologischen Ehrendoktorwürde der ehemaligen Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf; H.-J. B.) dafür gedankt worden.“ Anläßlich der Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde überreichte der evangelische Bischof von Berlin (West), Kurt Scharf, dem Geehrten die Lutherplakette mit der Inschrift „In großer Dankbarkeit dem Deuter reformatorischen Glaubens, dem Dichter Kurt Ihlenfeld“. Außerdem wurde Kurt Ihlenfeld zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste (1956) und des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland berufen.

Kurt Ihlenfeld hat ein sehr reichhaltiges literarisches Erbe hinterlassen, das bislang kaum rezipiert ist. Obwohl der Verfasser dieses Beitrages kein Literaturwissenschaftler, sondern evangelischer Theologe ist, soll an dieser Stelle ein erster Deutungsversuch vorgenommen werden. Dabei gilt zunächst die folgende Prämisse: Wir wollen nicht über Kurt Ihlenfeld schreiben, sondern von ihm (!); d. h. ihn selbst zu Worte kommen lassen.

Am 6. September 1972 veröffentlichte der „Evangelische Pressedienst“ (epd, Nr. 36) einen Beitrag von Ihlenfeld, den er kurz vor seinem Tode verfaßt hat. Dieser Beitrag scheint uns ein wesentlicher ,Schlüssel‘ zum Verständnis des Werkes von Kurt Ihlenfeld zu sein. Unter der Überschrift „Von der Kostbarkeit des Menschen“ schreibt er: „Bei einer Führung durch die Gemäldesammlung der Hamburger Kunsthalle fragte eine Teilnehmerin, ob die Bilder denn auch alle ,Originale‘ seien. Sie hatte offenbar bisher nichts anderes als gedruckte Wiedergaben zu sehen bekommen. Die Leiterin der Gruppe versicherte ihr, jawohl, alle Bilder hier in der Galerie seien ,Originale‘. Doch war sie sich darüber klar, daß mit diesem Bescheid keineswegs schon ein sachgemäßes Verhältnis der Fragestellerin zu den Bildern hergestellt sei. Daß es nun erst recht gelte, sie aus der Verlegenheit vor dem Original zur Vertrautheit mit dem Original weiterzuführen. Aus der Frage hatte ja zweifellos Verlegenheit, Unsicherheit, ja, eine Art von Angst gesprochen. Eben damit aber auch eine leise Ahnung, daß ,Originale‘ etwas Besonderes bedeuten, vielleicht etwas Einmaliges und Einzigartiges.

Nun sind die Original-Gemälde in unseren Museen tatsächlich alle nur ,in einem Exemplar‘ vorhanden. Daher unersetzlich. Daher auch kostbar. Keine Kopie - sei es durch einen Maler oder durch den Druck - vermag den Reiz des Originals wiederzugeben, jede Kopie bedingt eine gewisse Veränderung gegenüber dem Original. Sicher wird jene Hamburgerin bei ihrer ersten Begegnung mit so vielen Originalen einige Verwirrung auch darüber empfunden haben, daß es wirklich so viele Originale auf einmal gibt.

Auch mit Bezug auf den Menschen hat sich der Ausdruck eingebürgert. Man spricht von einem ,originellen‘ Menschen, ja, man nennt einen solchen Menschen auch ein ,Original‘. Dabei handelt es sich meist um solche Mitbürger, die durch irgendeine ,Sonderbarkeit‘ auffallen, weswegen man denn auch von ,Sonderlingen‘ spricht. Im Grunde aber ist - christlich gesprochen - jeder einzelne Mensch ein ,Original‘. Insofern er - genau wie das Bild im Museum - einmalig und unersetzlich ist. Daher auch - kostbar.

Jesus Christus wird im Neuen Testament nicht bloß ,Sohn Gottes‘ genannt, sondern auch ,unser Bruder‘. Mithin sind wir - als seine Brüder - auch ,Söhne Gottes‘. Das ist mit den Worten gemeint: ,So euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.‘ Eine höhere Bewertung des Menschen als diese ist nicht denkbar. Daher auch keine tiefere Erniedrigung des Menschen als die leider so oft von Christen ihren Mitmenschen zugefügte. Denn natürlich hat nicht nur der Christ Anteil an der von Jesus in die Welt gebrachten ,Sohnschaft‘, sondern jeder Mensch - sie ist allen zugedacht und zugesagt.

Am schrecklichsten wird gegen diese ,Originalität‘ - oder auch ,Ursprünglichkeit‘ - des Menschen im Krieg gewütet. Nächstdem aber auch sonst innerhalb der Völker und Gesellschaften: sei es durch eine unzulängliche Gesellschaftsform, sei es durch eine unzulängliche Rechtsprechung, sei es durch alle möglichen Vorurteile und Tabus. Sodann auch durch das alltägliche Verhalten der Menschen untereinander. Also hat sich die Jesus-Lehre von der allgemeinen ,Sohnschaft‘ der Menschen immer noch nicht genügend herumgesprochen. Also haben die mit dieser Lehre beauftragten Kirchen sie selber nicht richtig begriffen oder nur unzulänglich vertreten.

Es kann gut sein, daß zu diesen unseren Zeiten diese Lehre zu neuer Wirkung und zu neuen Ehren kommen soll. Nichts hindert uns, die große politische und soziale Unruhe auf allen Kontinenten auf diese Wurzel zurückzuführen. Sagt doch Jesus: ,Ich bin gekommen, ein Feuer auf Erden anzuzünden und was wollte ich lieber, als daß es schon brennte!‘ So rechnete er mit einer fortgehenden Wirkung seines Lebens und seiner Lehre. Vielleicht ist diese von solcher Beschaffenheit, daß sie in keiner Generation ganz ergriffen und ausgeschöpft werden kann. Jede neue Generation muß sich neu mit ihr auseinandersetzen. So auch wir heute. Es geht um den Menschen - nicht um Institutionen und Traditionen. Um den Menschen schlechthin - als ,Original‘ aus seines Schöpfers Hand, als einmalige, unersetzliche, kostbare Einzelerscheinung. Das gilt es festzuhalten, auch wenn das unheimliche Wachstum der Menschheit mehr und mehr dazu führt, den Einzelnen in dieser Masse kaum noch wahrzunehmen. Massenflucht und Massenelend werden uns täglich vor das Fernseh-Auge geführt. Ist es nicht so, daß uns dabei doch immer dieser und jener Einzelne in aller Flüchtigkeit des Bildes auffällt? (Wir werden ja sogar zu Zeugen von Hinrichtungen gemacht.) Aber dann schränkt sich doch das uns alltäglich umgebende Beobachtungsfeld wieder zusammen - auf die nächste Umwelt von Familie, Nachbarschaft, Beruf. Überall unter den vielen der Einzelne - einzigartig, unersetzlich, kostbar wie du selber auch.

Und immer wird gegen diesen Einzelnen gesündigt, wird dieser verachtet, wird diesem sein Recht verweigert. Überall. Ist er es, den die Demonstrationen meinen? Kommt er zu seinem Recht bei gewaltsamen Veränderungen der politischen und sozialen Strukturen? Man muß es bezweifeln. Wieviele Programme werden entworfen und durchgeführt - ohne seine Mitwirkung und ohne Rücksichtnahme auf ihn!

Im Endeffekt kommt es darauf hinaus, daß die Originale in den Museen besser, behutsamer, vorsichtiger, liebevoller behandelt werden als die menschlichen in den Städten und Straßen. Schon ist der Schwund an ,Originalität‘ zu spüren - in allen Bevölkerungs- und Berufsschichten. Kopien in Menge. Immer blassere und nichtssagendere. Und doch steckt noch im reduziertesten Menschen mindestens ein Hauch und ein Rest jener von Jesus uns zugesprochenen ,Sohnschaft‘. An diesen muß jedenfalls die Kirche sich halten, an ihn erinnern, ihn hüten und verteidigen - nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Menschen willen, den Jesus seinen Bruder genannt hat.“

Wir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, daß Kurt Ihlenfeld in diesem Beitrag die Summe seines literarischen Schaffens und menschlichen Daseins zieht. Die hier von ihm formulierten, konfessorisch zu nennenden Gedanken haben an Aktualität nichts, aber auch gar nichts eingebüßt, wenn man beispielsweise an Diskussionen unserer Tage denkt, die das Klonen von Menschen thematisieren. Kurt Ihlenfeld ging es um die einmalige, unersetzliche und kostbare „Originalität“ des Menschen, den er - aus seiner christlich-theologischen Sicht - als Geschöpf Gottes bezeichnet und versteht, der seinem Schöpfer, seinen Mitmenschen in der Nähe und in der Ferne, seiner Umwelt, seiner Geschichte, Gegenwart und Zukunft gegenüber verantwortlich ist. Diese Sicht des Menschen durchzieht das Gesamtwerk von Kurt Ihlenfeld; als Geschöpf Gottes wird der Mensch in die freudige Pflicht genommen, nicht weniger als ein Mensch zu sein, keinen „Schwund an Originalität“ zuzulassen. Dabei ist Kurt Ihlenfeld an der vorfindlichen Wirklichkeit orientiert, die er interpretiert. Er versucht nicht, eine neue imaginäre Welt der Dichtung zu schaffen. Dementsprechend ist auch Ihlenfelds erster Roman Wintergewitter zu verstehen, der als sein Hauptwerk gilt und in dem Ihlenfeld das Kriegsende in einem schlesischen Dorf reflektiert und das Schicksal von Flüchtlingen schildert, die durch den Zusammenbruch des Nazireiches zu einer Auseinandersetzung mit Gott angehalten werden. In einer Rezension über diesen Roman war seinerzeit in der „Süddeutschen Zeitung“ u. a. zu lesen: „Eine Darstellung der deutschen Tragödie im Osten, die dichterisches Relief hat. Es ist ein Buch, das ungewöhnliche Proportionen zeigt, was das innere Anliegen betrifft. Nicht mehr und nicht weniger unternimmt der Autor, als die allgemeine Menschennot aus dem nie zuvor so immanenten Konflikt: hie Christus, hie Waffengeschäft, zu erhellen.“ Seinem Roman Wintergewitter (1951) folgten weitere Romane; so Kommt wieder, Menschenkinder (1953), Der Kandidat (1958), Gregors vergebliche Reise (1962) und Das Fest der Frauen (1971). Sein lyrisches Tagebuch Unter dem einfachen Himmel erschien 1959. Kurt Ihlenfeld hat auch eine Reihe von Erzählungen (z. B. Geschichten um Bach, 1949) und sehr viele Essays geschrieben (z. B. Freundschaft mit Jochen Klepper, 1958). Des weiteren verfaßte Kurt Ihlenfeld Balladen ( z. B. Rosa und der General), Spiele (z. B. Die Nacht, von der man spricht), Betrachtungen (z. B. Sieben Feste) und den Text für die Gedenktafel am Schöneberger Rathaus, die an den Besuch von John F. Kennedy am 26. Juni 1963 erinnert.

Auch unvergessen und bleibend sind Ihlenfelds Bemühungen um die Erschließung des Werkes von Paul Gerhardt, der ebenso wie Kurt Ihlenfeld von der Wirklichkeit Gottes redet bzw. dichtet und der - nach Martin Luther - der bedeutendste deutsche Kirchenlieddichter ist. Im Jahre 1956 erscheint Ihlenfelds Huldigung für Paul Gerhardt und ein Jahr später sein Büchlein Ein Botschafter der Freude, das den Berliner Jahren von Paul Gerhardt gewidmet ist.

Anläßlich des 350. Geburtstages von Paul Gerhardt fand am 15. März 1957 eine Gedenkfeier der Berliner Akademie der Künste statt, auf der Kurt Ihlenfeld die Festrede hielt und aus der im folgenden zitiert sein soll:

„Paul Gerhardt war ein Dichter, der vielleicht gar nicht recht wußte, daß er einer war, und der mit siebzig Jahren, wenige Monate vor seinem Tode, als er immerhin hier in Berlin, aber auch sonst in deutschen Landen durch seine Lieder hohes Ansehen gewonnen hatte - im Testament für seinen Sohn Paul Friedrich mit diesen schlichten Worten die Summe seines Lebens zog: ,Meinem einzigen hinterlassenen Sohne überlasse ich von irdischen Gütern wenig, dabei aber einen ehrlichen Namen, dessen er sich nicht sonderlich wird zu schämen haben.‘ Bescheidener kann ein Dichter wohl kaum von seiner Leistung und seiner Wirkung denken, als es in diesem Satze geschieht. Also muß auch, wer über Paul Gerhardt schreibt oder redet, sorgfältig darauf achthaben, daß er die hiermit vom Dichter selbst gezogene Grenze gegen alles Jubiläums-Pathos, allen frommen oder unfrommen Eifer, mehr aus ihm zu machen, als er war und wofür er sich selber hielt, nicht überschreitet.

Seine bescheidene Lebensführung stand im reinen Einklang mit seinem gänzlichen Mangel an literarischem Ehrgeiz. Die Gedichte, von denen die Berliner soviel Rühmens machten -, daß er sie geschrieben hatte, dazu bekannte er sich, was aber ihre Verbreitung und seinen daraus etwa resultierenden Ruhm betraf: das schien ihm nicht belangvoll genug, um sich selber damit zu beschäftigen.

Wahrscheinlich hätte Paul Gerhardt, wenn ihn jemand auf sein Dichtertum angeredet hätte, erstaunt aufgeblickt und schlicht entgegnet: Dichter? Ich bin Pastor. Dennoch war er ein Dichter. War, um die Worte Fontanes zu gebrauchen, ,eine dichterische Natur, mehr als tausend andere, die sich selber anbeten‘.“

Kurt Ihlenfeld beklagt in seiner Festrede einerseits den damals zutreffenden Umstand, daß das Werk von Paul Gerhardt in der Literaturwissenschaft nur unzureichend Berücksichtigung findet, aber andererseits gibt er zu bedenken:

„Aber Wissenschaft hin, Wissenschaft her, der Ort eines Dichters in der Geschichte der Dichtung wird nicht von der Wissenschaft bestimmt und nicht durch die Interpretation, die ihm gelegentlich zuteil wird, sondern von ihm selber und seinem Werk, das durch sein Dasein fortwirkt. So ist es wohl besser, statt sich ins literarhistorische Für und Wider, Wenn und Aber einzulassen, einfach der Erfahrung Raum zu geben, die man im Umgang mit dem Dichter und seinen Gedichten gemacht hat, die Faszination zu bezeugen, die Stille und starke Überredungskraft, die von seinem Werke auf den späteren Leser ausging: ,Hier, das ist etwas für dich, greif zu‘, oder, wie es dem jungen Augustus geschah, daß ihn, den lange Suchenden, eine Stimme über die Mauer der Schule erreichte und ihn anredete mit dem berühmten ,tolle, lege‘, - nimm und lies. Ich bekenne unumwunden, daß ich von Paul Gerhardt in diesem Sinne angeredet worden bin. Wann zum erstenmal - ich weiß es nicht, doch kann ich mir eine Zeit, da ich ohne ihn gelebt habe, nicht vorstellen, es seien denn die allerersten Jahre der Kindheit, wenn da nicht schon jener Vers aus seinem Abendliede - ,Breit aus die Flügel beide‘ - zuallererst zu mir gesprochen hat, aus nächstem und vertrautestem Munde. Wir kommen ja alle aus jener frühen Zone willenloser Hinnahme unvergänglicher Wahrworte und Segenssprüche, sind alle mit irgendeinem einfältigen Verslein an die Rätsel des menschlichen Daseins gewöhnt worden, als wir um deren Lösung uns noch keine Gedanken und Sorgen machten. Wahrscheinlich wäre ich nicht fähig geworden, mit Versen von Goethe und Schiller, aber auch von Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn richtig umzugehen, wenn ich nicht so früh durch Paul Gerhardt auf unbewußt empfangende Weise Fühlung mit dem Gedicht bekommen hätte.“

18 Jahre nach dem Tod von Kurt Ihlenfeld wurde am 24. Oktober 1990 an seinem ehemaligen Wohnhaus Heimat 85 in Berlin-Zehlendorf eine Gedenktafel enthüllt. Die Gedenkrede hielt Walter Schmithals, Theologieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität. Er führte u. a. aus:

Die Romane von Kurt Ihlenfeld sind nicht „christlich ... wegen ihrer Themen oder wegen einer frommen Sprache, sondern weil Kurt Ihlenfeld die vorfindliche Welt und das mensch-liche Handeln, Schuld und Vergebung, irdisches Leid und Gerechtigkeit Gottes im Lichte der Einsicht darstellt, daß das Wesen dieser Welt vergeht und die Gnade Gottes ewig bleibt. Anders als für manche Zeitgenossen schlossen sich für ihn Kult und Kunst, Lehre und Leben, das Bekenntnis zum Schöpfer und das Schaffen des Künstlers nicht aus; er nahm für sich und seine Freunde aus dem Eckart-Kreis ,eine aus der christlichen Freiheit genährte Unbefangenheit durchaus lebensmäßiger Natur‘ in Anspruch. Bedenkt man, daß Kurt Ihlenfeld in seinem Erstling Wintergewitter - er war damals schon in das 6. Lebensjahrzehnt eingetreten - das Kriegsende in Schlesien und die Flucht aus dem Osten schildert - vielen der Vertriebenen ist dies Buch eine erste Hilfe gewesen, den Verlust der Heimat zu bewältigen - und daß er in Kommt wieder Menschenkinder eine Kindertragödie im Wedding der Nachkriegszeit erzählt, so erkennt man außerdem, daß auch Kurt Ihlenfelds Wirken als Redakteur, der er zeitlebens gewesen ist, als Journalist und als Künstler eine Einheit bilden derart, daß die Dichte der Erzählung, sowie der geistige und geistliche Sinn des Erzählers auch die anderen publizistischen Tätigkeiten regierten ... Redakteur war er mit Leidenschaft, denn nicht nur Kunst und Alltag, Wort und Wirklichkeit, sondern auch das Denken Luthers und die alltäglichen Lebensinteressen der Menschen klafften für ihn nicht auseinander, und sein unverstellter Zugang zu der jeweiligen Gegenwart gerade auch dieser Stadt, in der er schrieb, stellt sein Werk für uns Berliner gleichgewichtig neben die älteren Werke seiner Freunde aus dem Eckart-Kreis ...“

Unser eingangs dieses Beitrages formuliertes Votum, daß Kurt Ihlenfeld mit zu den führenden Vertretern der protestantischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehört, soll abschließend mit einer Anregung verbunden werden: 25 Jahre nach dem Tod dieses christlichen Schriftstellers wird es m. E. hohe Zeit, ihm beispielsweise eine theologisch-literaturgeschichtliche Dissertation zu widmen.

Bibliographie Kurt Ihlenfeld

Ausführliche Verzeichnisse:

Kurt Lothar Tank, Artikel über Kurt Ihlenfeld. In: Hermann Kunisch, Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, Band 1, München 1970, 2. Auflage, S. 336-337
Deutsches Literatur-Lexikon, Band 8, München 1981, 3. Auflage, S. 352-353

Besonders hervorzuheben sind:

Geschichten um (Johann Sebastian) Bach, Witten 1949
Wintergewitter. Roman, Witten und Berlin 1951
Kommt wieder, Menschenkinder. Roman, Witten und Berlin 1953
Freundschaft mit Jochen Klepper. Witten und Berlin 1958
Unter dem einfachen Himmel. Ein lyrisches Tagebuch, Witten und Berlin 1959
Der Kandidat. Roman, Witten und Berlin 1959
Die Nacht, von der man spricht. Spiele im Dezember, Witten und Berlin 1961
Gregors vergebliche Reise. Roman, Witten und Berlin 1962
TE DEUM HEUTE. 365 Texte zur Krisis des Christentums, Witten und Berlin 1965
Noch spricht das Land. Eine ostdeutsche Besinnung, Hamburg 1966
Angst vor Luther? Witten und Berlin 1967
Das Fest der Frauen. Roman, Witten und Berlin 1971
Das wirkende Wort. Annäherungen an prominente Protestanten von Martin Luther bis Jochen Klepper, Lahr/Schwarzwald 1994
Stadtmitte. Kritische Gänge in Berlin, Witten und Berlin 1964. Dieses Buch erscheint im Spätherbst dieses Jahres im Berliner Verlag Frieling & Partner. Die Neuherausgabe besorgte Frau Christa Ortleb, die Tochter von Kurt Ihlenfeld.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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