Analysen - Gespräche - Berichte - Essays

 

Helmut Hirsch

Von der Begierde, andere zu tadeln oder zu loben

Wie und warum Bücher rezensiert werden

 

Nichts leichter als das: man schneidet eine Kartoffel zurecht, bis sie wie
eine Birne aussieht, dann beißt man hinein und empört sich vor aller
Öffentlichkeit, daß es nicht nach Birne schmeckt, ganz und gar nicht!
Max Frisch, Tagebuch 1946-1949

„Unsere deutsche Literatur ist besonders durch Hilfe der Journalisten so sehr zu einer Trödelbude geworden, wo falsche Ware gegen falsche Münze ausgetauscht wird, daß ein ehrlicher Mann, der sein Schild mit aushängt, wenigstens alle Gelegenheit ergreifen muß, um das Publikum zu überführen, daß man im Grunde ein ehrlicher Mann bleiben könne, ob man sich gleich in verdächtiger Gesellschaft hat betreten lassen.“ Mit diesen Worten beginnt eine „Nachricht an das Publikum“, die am 27. März 1772 in der Rezensionszeitung „Frankfurter gelehrte Anzeigen“ erscheint. Eine Klage gegen eine Zunft, die mit der Literatur der damaligen Zeit Unfug trieb. Die Absender dieser Nachricht waren Herder, Merck und Goethe. Von Straßburg, Darmstadt und Frankfurt aus unternahmen sie ein Jahr lang den Versuch, literarische Neuigkeiten mit ihren Mitteln zu rezensieren. Man las, schickte Meinungen über Bücher von Ort zu Ort und entschloß sich zu Rezensionen, die nicht mit dem Namen eines einzelnen gezeichnet waren. Nicht nur der schönen Literatur, auch Sprachen und Künsten, Religion, Philosophie und Zeitgeschichte galt das Interesse der anonymen Rezensenten. Der 72er Jahrgang der „Frankfurter gelehrten Anzeigen“ ist Literaturgeschichte geworden. Die Herder-Merck-Goethe-Gruppe, schon längst waren allesamt in die schönsten literarischen Geschäfte verwickelt, vertiefte sich für kurze Zeit intensiv ins kritische Metier. Was die Dichter des Sturm und Drang wollten, war in den „Anzeigen“ nachzulesen. Nicht nur poetische Maßverhältnisse wurden zerbrochen, auch in der Kritik von Literatur wurde ein völlig neuer Ton angeschlagen. Seinem Freund Höpfner annoncierte Merck die Rezensionen in den „FGA“ so: „Sie werden sich nächstens wundern, wie der Staub von den Perücken der Kahlköpfe fliegt.“ So kündigte sich eine literarische Revolution an, eine ihrer liebsten Kurzformeln hieß: „Die Dichtkunst und alle schönen Künste strömen aus den Empfindungen, sind nur den Empfindungen gewidmet und sollten nur durch sie beurteilt werden.“

Neu war daran, daß der Beurteilende auch Genießender sein mußte. Kritik wurde konstruktiv. In einer gemeinsam verfaßten Rezension versagten Merck und Goethe dem Schweizer Philosophen Johann Georg Sulzer und dessen „Theorie der schönen Künste“ ihre Zustimmung. Sie kritisierten Sulzer als realitätsfernen Ästheten, der nur die Kunst gelten lassen wollte, die der schönen, harmonischen Natur nachgebildet war. Zur Natur aber, konterten sie, gehöre auch ihre verschlingende, grausame Kraft. Der Kritiker war nicht mehr Belehrender wie im Zeitalter der Aufklärung, sondern Finder und Erfinder bisher unentdeckter Themen. „Aus Liebe zur Wahrheit und nicht als Parteigänger“ wollten die Stürmer und Dränger Neuerscheinungen vorstellen und kritische besprechen. Die Folgen ihrer ungewöhnlichen Arbeit waren aber nicht nur erfreuliche. Nach einem Jahr wird in einer „Nachrede statt der versprochenen Vorrede“ resümiert: „Es ist wahr, es konnten einige Autoren sich über uns beklagen. Die billigste Kritik ist schon Ungerechtigkeit; jeder macht’s nach Vermögen und Kräften und findet sein Publikum, wie er einen Buchhändler gefunden hat. Wir hoffen, diese Herren werden damit sich trösten und die Unbilligkeit verschmerzen, über die sie sich beschweren. Unsre Mitbrüder an der kritischen Innung hatten außer dem Handwerksneid noch einige andere Ursachen, uns öffentlich anzuschreien und heimlich zu necken. Wir trieben das Handwerk ein bißchen freier als sie und mit mehr Eifer. Die Gleichheit ist in allen Ständen der Grund der Ordnung und des Guten, und der Bäcker verdient Strafe, der Brezeln backt, wenn er nur Brot aufstellen sollte; sie mögen übrigens wohlschmecken, wem sie wollen.“

Freimütigkeit und Ehrlichkeit war für die Mitarbeiter am Rezensionsblatt oberstes Gebot. Doch schon bald riefen zum Beispiel die religionskritischen Rezensionen die orthodoxe Frankfurter Geistlichkeit auf den Plan, allen voran der wortgewaltige evangelische Kanzelredner Johann Jakob Plitt. Er hatte sich dagegen empört, daß in der Zeitschrift die „geheiligte“ Lehre von der Erbsünde, dem Satan und von der Ewigkeit der Höllenstrafen angezweifelt wurde. Plitt grummelte in einem Brief vom 9. September 1772 an das „Prediger-Ministerium“: „In der hiesigen gelehrten Zeitung sind zwar sehr viele Sätze enthalten wodurch manchen Grundlehren der christlichen Religion widersprochen wird; aber seit einiger Zeit werden sie solcher Gestalt übertrieben, daß wir es für unsere Pflicht halten, deswegen eine beschwerende Anzeige zu tun und die gehorsamste Bitte um Abstellung dieses Ärgernisses beizufügen.“

Die Obrigkeit griff ein. Gegen das „ketzerische und gotteslästerliche“ Blatt kam es zum Prozeß. Das „Prediger-Ministerium“ verbot bei Strafe von 100 Talern fortan alle religiösen Rezensionen, es sei denn, sie passierten zuvor die Zensur des Frankfurter Klerus. Dieser Vorgang ist schon deswegen einer ausführlichen Mitteilung wert, weil hier die Nähe von Kritik und Zensur deutlich wird, also ein hinterlistiger Kampf der Köpfe, der zu allen Zeiten unrühmliche Nachfolger gefunden hat. Die erpresserische Situation der Herder-Merck-Goethe-Gruppe ist aber auch ironisch gefärbt. Denn in der Öffentlichkeit des Blattes nehmen sie eine geradezu lässige Haltung ein: „Allen diesen Beschwerden, soviel möglich, abzuhelfen, wird unser eifrigstes Bestreben sein, welches um so viel mehr erleichtert wird, da mit Ende dieses Jahres diejenigen Rezensenten, über deren Arbeit die meiste Klage gewesen, ein Ende ihres kritischen Lebens machen wollen.“ Die feine Ironie der Rezensenten wird in der „Nachrede“ weg von den kritisierten Rüpeln direkt zum Leser hin weitergesponnen. Die ausscheidenden Mitarbeiter lassen durch die „Frankfurter gelehrten Anzeigen“ mitteilen: „Sie sagen, sie seien vollkommen befriedigt, haben dieses Jahr mancherlei gelernt, und wünschen, daß ihre Bemühungen auch ihren Lesern nicht ganz ohne Nutzen sein mögen. Sie haben dabei erfahren, was das sei, sich dem Publiko kommunizieren wollen, Mißverstanden werden und was dergleichen mehr ist: indessen hoffen sie doch, manchen sympathisierenden Leser gefunden zu haben, dessen gutem Andenken sie sich hiermit empfehlen.“ Wer wissen will, wie und warum Bücher rezensiert werden, hat aus dieser Episode von nicht ganz unwichtigen Männern schon viel, nahezu alles erfahren. Auch daß sie den Leser in die Mitte des Bildes setzen, ist kein Wunder, denn so müssen Autoren denken, ob gut oder schlecht: Es gilt, den Erfolg nicht aus dem Sinn zu verlieren. Daran dachte auch Lessing, der Begründer der deutschen Literaturkritik, der sich nicht scheute, auch eigene Bücher zu besprechen. Was heute kaum noch bekannt ist, Lessing, der Dichter von „Emilia Galotti“, „Minna von Barnhelm“ und „Nathan der Weise“ begann bescheiden mit journalistischen Arbeiten, mit Rezensionen. Als der Verleger Christian Friedrich Voß 1751 die „Berlinische privilegierte Zeitung“ übernahm, beauftragte er Mitte Februar des gleichen Jahres Lessing mit der Redaktion des „gelehrten Artikels“. So wurde der junge Dichter sozusagen „Feuilleton“-Redakteur dieses Blattes, das auch und vor allem unter dem Namen „Vossische Zeitung“ berühmt geworden ist. Lessings Rezensionen sind kurz und prägnant, geschliffen und vorbildlich. Pointiert und polemisch zeichnen sie sich besonders dadurch aus, den Leser ganz unmittelbar anzusprechen. Am 27. März 1751 rezensiert Lessing die Gedichte des Leipziger Professors und ungekrönten Literaturpapstes Gottsched. Zuerst lobt er das Äußere des Buches, dann aber schlägt er bissig zu: „Von dem Innerlichen aber einen zureichenden Entwurf zu geben, das übersteigt unsre Kräfte.“ Der gestelzte poetische Geist Gottscheds ist Lessing so fremd, daß er seine Rezension mit diesem kecken Hieb beschließt: „Diese Gedichte kosten in den Voßischen Buchläden hier und in Potsdam 2 Tlr. 4 Gr., mit 2 Tlr. bezahlt man das Lächerliche und mit 4 Gr. ohngefähr das Nützliche.“

Die Rezension von Gellerts ,Briefen nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen‘ hingegen quillt fast über vor Lob, der Kontrast zur kühlen Abfertigung Gottscheds kann nicht größer sein. Lessing nennt Gellerts Briefe „durchgängig Meisterstücke“, in denen überall „die schöne Natur herrscht“, und wie berauscht heißt es weiter: „Alle Zeilen sind mit dem süßesten Gefühle, mit den rühmlichsten Gesinnungen belebt; und die Überzeugung, daß sie der Verfasser an würkliche Personen geschrieben hat, macht den Anteil, welchen die Leser daran nehmen, ungleich größer. Von was vor einem Herze sind sie die Beweise! Wie liebenswert hat sich der Verfasser selbst, ihm unbewußt, darinne geschildert! Welche Freundschaft, welche Aufrichtigkeit, welche Liebe!“

Lessings Diktion: ganz persönlich wie ein erzähltes Erlebnis und niemals auch nur ein Hauch von Wissenschaftsgeschwätz. Er scheut sich nicht vor gängigen Sentenzen und weiß, wo redliche Klarheit herrscht, kann ein bißchen übertrieben werden.

Was heute fast unvorstellbar ist, viele Dichter des 18. Jahrhunderts schätzten einander nicht nur mit liebevollen oder recht kritischen Worten, vielmehr nahmen sie überhaupt einander wahr, lasen die Bücher der anderen noch, was heutzutage überaus selten sein soll. Das lag sicher nicht nur daran, daß es noch keine professionelle Kritik gab.

Herder wiederum, Lessings „Vermischte Schriften“ rezensierend, spart nicht mit Kritik, räumt offensichtliche Mängel ein, nennt Lessings Theorie vom Epigramm gar „zu enge, zu ausschließlich, zu willkürlich, zu ekel“ auch. Doch inmitten seiner ausführlichen Besprechung steht ein ganz wichtiger Satz, sozusagen das A und O aller seriösen Kritik: „Man behalte, daß wir die Erklärung des Verfassers voraussetzen. Wir streiten also auf seinem Grund und Boden.“

Auch als Essayist und literarischer Theoretiker hat Herder immer die jeweilige poetische Denk- und Lebensart vorausgesetzt. Erst gründliche Wahrnehmung schuf die Gewähr, daß auch „freier gerüget“ werden konnte. Das Urteil des „Kunstrichters“, wie man im 18. Jahrhundert ganz erfurchts- und erwartungsvoll den Rezensenten noch nannte, war (wie auch heute noch) einerseits gefürchtet, andererseits aber heftig erwünscht. Zugleich aber lebte auch der Kunstrichter, zumal wenn er selbst ein junger Dichter war, in der Angst, er könne nach seinem Einspruch durch ein Donnerwort aus dem Lager der Angegriffenen Schaden nehmen. Diese Dauerspannung würzte das geistige Klima der Zeit. In materieller Hinsicht bringt die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts auch für die Geister bemerkenswerten Aufschwung. Die jährliche Buchproduktion steigt enorm, von 755 im Jahre 1740 auf schließlich 2569 im Jahre 1800. Eine regelrechte Hoch-Zeit für Verlage und Buchhandlungen bricht an. Während das Druckgewerbe noch zunftmäßig organisiert war, waren Buchhandel und Verlagswesen schon freie Gewerbe, in die jedermann eintreten konnte. Es war die Zeit der kulturellen Industrialisierung. Aus Buchdruckern wurden große Verlagshändler, die von Gelehrten, Halbgelehrten oder Studenten Romane, Gedichte oder Reisebeschreibungen kauften. Jene Fabrikschriftstellereien waren die Ahnen heutiger Buchmonopolisten. 1788 heißt es in einem Bericht über diese rasche Entwicklung, gedruckt werden durchschnittlich je 500 Exemplare von jedem Titel, das aber bedeutete, daß der Preis pro Buch sehr hoch lag. Und über die neuen Fabrikanten: „Dann lassen sie durch alle Journale und Zeitungen posaunen und machen mit Geschrei auch das schlechte Zeug durch ganz Deutschland bekannt. - Das Publikum, das immer neues haben will, das alte sein läßt, bestürmt die Buchhändler, will die neuen Wunder sehen.“ Nicht jedes neue Großunternehmen in der Buchbranche war aber einhellig schlecht, vor allem dann nicht, wenn es sich vornahm, über Literatur Bescheid zu geben. Zu ihnen gehörte der Berliner Verleger, Buchhändler und Schriftsteller Friedrich Nicolai, der Freund Lessings und Moses Mendelssohns. Zudem einer der rührigsten Organisatoren der deutschen Aufklärung, hatte er im Jahre 1765 damit begonnen, das Zeitschriftenunternehmen „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ herauszugeben. In einem Prolog kündigte Nicolai seinen Anspruch so an: „In diesem Werk die ganze neue deutsche Literatur, von dem Jahre 1764 an, zu fassen. Man wird darinnen von allen in Deutschland neu herauskommenden Büchern und andern Vorfällen, die die Literatur angehen, Nachrichten erteilen.“ Nicolais ehrgeiziges Ziel war es, nicht allein auch die entlegensten Orte mit dem „wahren Werth“ der Bücher bekannt zu machen, sondern ein kritisches Forum für eine öffentliche Diskussion zu schaffen. So wurde die „ADB“ nach französischem und englischem Vorbild ein Rezensionsorgan von beträchtlichem Umfang. Sie erschien vier Jahrzehnte lang. Die mehr als 80 000 Rezensionen in insgesamt 268 Bänden regten nicht nur an, sondern viele Gemüter auch auf. Denn es konnte bei solch einem Mammutunternehmen nicht ausbleiben, daß unter den mehr als hundert Rezensenten Kritiker unterschiedlichster Verfassung und Qualität am Werke waren. Einer, den wir schon aus dem Jahrgang 1772 der „Frankfurter gelehrten Anzeigen“ kennen, trat auch zeitweilig bei Nicolai in kritische Dienste: Johann Heinrich Merck schrieb sechs Jahre lang unter den Kürzeln Au, Za und Um Rezensionen für die „ADB“.

Nicolai belehrte nicht nur gern das Lesepublikum, er gängelte dazu auch die Mehrzahl seiner kritischen Mitarbeiter. Schwor sie auf seine immer etwas didaktisch verbrämten Auffassungen ein, die der Poesie ohnehin nur eine Randstellung im Ensemble der „schönen Wissenschaften“ zubilligten. Er bemaß den Wert jeglicher Literatur am direkten Nutzeffekt. Freilich haften Autoren, die dies beabsichtigen, zu allen Zeiten Nützlichkeitseffekte an, die der Feind der Künste sind. So wurde Nicolai ein mächtiger und ein wenig beliebter Mann.

Wenn Nicolais „Rezensionsfabrik“, wie der Philosoph Fichte die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ sarkastisch nannte, bei den zeitgenössischen Autoren immer weniger beliebt war, so lag das einmal daran, daß ihr Aufklärungsstandpunkt mehr und mehr in Gegensatz zu den neuen Erscheinungen in der Literatur geriet, zum andern aber auch an der Rezensentenfeindlichkeit vieler Autoren. Fichte, der ein ganzes Anti-Nicolai-Buch geschrieben hatte, faßte diese heftige Abneigung in die Worte: „Wer selbst ein Buch schreiben kann, der schreibt ein Buch und keine Rezension, und für die Rezensionen bleiben in der Regel nur diejenigen übrig, die kein Buch schreiben können: hinter ihrem Zeitalter zurückgebliebene Invaliden, deren Bücher keinen Absatz und also keinen Verleger finden, und Schüler, die zwar ein Aufsätzchen in Größe einer Rezension zusammenbringen, aber nicht den Plan eines Buches entwerfen können.“

Zweifellos können solche harten Anschuldigungen dem Rezensionswesen nur gut tun, sofern sie verstanden werden. Fichtes Wort, das den schlechten Autor zum Rezensenten stempelt, ist in der Literaturgeschichte oft und gern zitiert worden. Es trifft aber zum Glück nicht immer zu. Das gilt auch für den gelegentlich auftauchenden Vorwurf, der Kritiker sollte doch zeigen, daß er es besser zu machen imstande ist als der von ihm kritisierte Autor. Bleiben wir noch bei dem Berliner Nicolai, denn interessant war der Mann allemal. Besonders heftig wehrte er sich gegen das aufbrausend kraftvolle Lebensgefühl der Stürmer und Dränger. Auch war ihm die analytisch-gründliche Schreibart Herders ein Ärgernis. Daß Herder dennoch auch für die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ schrieb, beweist Toleranz. Eine rasch zunehmende Entfremdung beider machte die Zusammenarbeit bald zunichte. Nicolai gestand Herder freimütig im Brief vom 13. Juni 1774, daß „unsere Meinungen, je mehr sie sich entwickeln, desto weiter auseinander gehen“.

Es gehört zur schillernd-produktiven Existenz Nicolais, daß er bei alledem auch eine satirische Ader als Autor besaß. So parodierte er zum Beispiel nicht ungeschickt Goethes „Werther“-Roman. Das wiederum hatte Goethe verärgert, besonders weil Nicolai zu sehr die außerliteratischen Wirkungen des Buches im Auge gehabt hatte. Als in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Berliner Rezensierfabrik immer unrühmlicher auffiele, zogen Goethe und Schiller gemeinsam in ihren „Xenien“ über Nicolai her. In dem kunstvollen Literaturkrieg zwischen Klassikern und Aufklärern schrieben die Weimaraner über Nicolais Roman „Geschichte des dicken Mannes“: „Dieses Werk ist durchaus nicht in Gesellschaft zu lesen, / Da es, wie Rezensent rühmet, die Blähungen treibt.“ Das Xenion „Philosophische Querköpfe“ verpaßte Spitznamen: „Querkopf! schreiet / ergrimmt in unsere Wälder / Nickel, / Leerkopf! schallt es darauf lustig zum Walde heraus.“

Auch Jean Paul kommt in seiner Satire „Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“ 1801 noch einmal auf Nicolais platten Rationalismus zurück: „Himmel! es waren (die Nicolaiten nämlich) aufgeklärte Achtzehnjahrhunderter; sie standen ganz für Friedrich II., für die gemäßigte Freiheit und gute Erholungslektüre und einen gemäßigten Deismus und eine gemäßigte Philosophie; sie erklärten sich sehr gegen Geistererscheinungen, Schwärmerei und Extreme; sie lasen ihren Dichter sehr gern als ein Stilistikum zum Vorteil der Geschäfte und zur Abspannung vom Soliden; sie genossen die Nachtigallen ... als Braten und machten mit der Myrte ... den Ofen heiß ...“

Ein schönes Beispiel dafür, wie Kritik, nicht allein das Fach der Rezensenten, unmittelbar in die Literatur Eingang fand. Doch das weite Feld der kritischen Ober- und Untertöne kennt auch mittlere Abstufungen genug. So waren sich in ihrer Abneigung gegen die Romantiker Nicolai und Goethe wieder unfreiwillig einig. Auch verstand sich Goethe bis ins hohe Alter vorzüglich auf freundliche Rezensionen gegenüber recht mittelmäßigen Dichtern. Wo Talent oder Genie sich zeigte, zog sich Goethe zurück. Als Heinrich Heine ihm Ende Dezember 1821 seinen ersten Gedichtband aus Berlin schickte, legte er noch ein Briefchen bei, in dem er überschwenglich (zugleich hoffend und somit ein bißchen raffiniert auch) um eine Rezension bat. „Ich hätte hundert Gründe, Ew. Exzellenz meine Gedichte zu schicken. Ich will nur einen erwähnen: Ich liebe Sie. Ich glaube, das ist ein hinreichender Grund.“ Der Berliner Jurastudent Heine hatte auf Anregung Friedrich Schlegels Goethe gelesen und lobte: „Das habe ich ehrlich getan, und wenn mal etwas Rechtes aus mir wird, so weiß ich, wem ich es verdanke.“ Doch Goethe blieb kalt und schwieg. Schon einen Tag nach diesem Brief schrieb Heine auch an den weniger berühmten Dramatiker Adolf Müllner, noch selbstsicherer und pathetischer: „Den beiliegenden Band Gedichte übersende ich Ew. Wohlgeboren bloß, weil ich eine Rezension derselben im Literaturblatte zu sehen wünsche. - Ich gewinne viel, wenn die Rezension gut ausfällt, d. h. nicht gar zu bitter ist. Denn ich habe in einem hiesigen literarischen Klub gewettet, daß Hofrat Müllner mich parteilos rezensieren wird, selbst wenn ich sage, daß ich zu seinen Antagonisten gehöre.“ Die Rechnung ging auf. Müllner, ein redlicher „Antagonist“, rezensierte und „nicht gar zu bitter“.

Heinrich Heine und die Kritik, ein Thema für ein ganzes Buch. Daß er so freundlich gelobt wurde, machte ihn bald stutzig, er ahnte, „daß ein gar zu feuriger Enthusisasmus für meine Persönlichkeit endlich verkohlen muß und, wenn Regen auf die Kohlen fällt, dem schwarzen Schmutze Platz macht. Ich erwarte die Zeichen dieses Schmutzes, und ich werde es ohne Bitterkeit zusehen, daß mich die Menschen, die mich in den Himmel erhoben, auch zur Abwechslung einmal mit Kot bewerfen.“ Dazu mußte nur ein scharfes „Rezensiermesser“ her. Karl Immermann und Gustav Schwab verstanden sich auf derlei Besteck. Lakonisch-bissig bemerkte Heine gegenüber Schwab, der sein „Buch der Lieder“ zerschnitten hatte: „Nach dem Inhalt jener Rezension zu schließen, sollte man glauben, ich sei eben der Galeere entsprungen, sie wirkt sogar auf meinen Kredit, ich glaube, wer sie gelesen, borgt mir keinen Groschen mehr.“ Er selbst verstand es auch, wie man einen Autor, der Blüten abgeliefert hatte, blumenreich einsalbte. Über das Trauerspiel „Tassos Tod“ von Wilhelm Smets schrieb Heine 1819: „Das Rezensieren hat doch auch sein Gutes. Es gibt heu’r so viele wunderliche Bäume auf dem Parnaß, daß es not tut, wie in botanischen Gärten Gebrauch ist, bei jedem ein weißes Täfelchen zu stellen, worauf der Wandrer lesen kann: Unter diesem Baume läßt sich’s angenehm ruhen, auf diesem wachsen treffliche Früchte, in diesem singen Nachtigallen; - sowie auch: Auf diesem Baume wachsen unreife, unerquickliche und giftige Früchte, unter diesem Baume duftet sinnebetäubender Weihrauch, unter diesem spuken des Nachts alte Rittergeister, in diesem pfeift ein saubrer Vogel, unter diesem Baume kann man gut - einschlafen.“

Ein Bilderbuch der Kritik: Irrlichter und Metaphern. Der Blick ins literarische 18. und 19.Jahrhundert lehrt: ein Irrtum anzunehmen, daß sich im Streit in und um Literatur immer nur zwei Lager feindlich gegenüberstehen. Fixe Größen waren selten, fast jeder konnte Dichter und Kritiker, Rezensent oder Poet sein. Es ging einfach phantastischer zu als heute, es wurde heftig gestichelt, und im Streit selbst war ja zu erkennen, warum da Spaß auch aufkam. Recht spannend wurde es immer dann, wenn Autoren als Kritiker gegen Autoren fochten. Man teilte aus und steckte ein, nicht nur wechsel-, sondern auch kreuzweise. Auf der Strecke blieben die eher zarten Talente, denen die Kraft fehlte, ihr in den Staub gesetztes Talent wieder ans Licht der leuchtenden Poesie zu ziehen.

Goethe, auf allen Bühnen geübt, ignorierte und nahm nicht zur Kenntnis, was seiner Natur und Poesie zuwiderlief. Gegen seine kritische Meute behalf er sich manchmal mit einem Gedicht. Eines trägt den schnöden Titel „Rezensent“ und geht so: „Da hat ich einen Kerl zu Gast, / Er war mir eben nicht zur Last; / Ich hatt just mein gewöhnlich Essen, / Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen, / Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt. / Und kaum ist mir der Kerl so satt, / Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen, / Über mein Essen zu räsonieren: / ,Die Supp hätt können gewürzter sein, / Der Braten brauner, firner der Wein.‘/ Der Tausendsakerment! / Schlagt ihn tot, der Hund! Es ist ein Rezensent.“

Der Dichter Christoph Martin Wieland, dessen Romane auch heute noch gut lesbar sind, war ein Mann des dezenten Ausgleichs, mit Sensibilität und hoher Kenntnis betrieb er nebenbei das kritische Metier. 1773 hatte er in Weimar seinen „Teutschen Merkur“ begründet, ein Journal, das er dreiundzwanzig Jahre als Herausgeber und Redakteur leitete. Eine Publikation, die sich als ein „Nationaljournal“ verstand und keine reine Rezensionszeitschrift war wie die schon erwähnten Blätter aus Frankfurt und Berlin. Im Gegensatz zu Friedrich Nicolais „Allgemeiner Deutscher Bibliothek“ wollte der „Teutsche Merkur“ aufklären und bilden, ohne jedoch dabei eine allgemeinverbindliche Norm aufzustellen. Denkanstöße wollte Wieland vermitteln und unterhalten, anregen ohne zu überreden. Alle namhaften Autoren der Zeit schrieben für Wielands Journal. Insonderheit an die Kritik setzte Wieland hohe Maßstäbe, denn auch er war oft genug ein Opfer boshafter und oberflächlicher Rezensenten geworden. Ihm aber lag der wahre, vorbildliche, unvoreingenommene Rezensent am Herzen, der sich nicht zum „eigenmächtigen Tyrannen der literarischen Welt aufwerfen“ dürfe. Von allen seinen kritischen Mitarbeitern forderte er: „Ich möchte gern gründliche Kritik, aber nicht schwerfällig; scharf, aber nicht zu beißend; lebhaft, aber dezent; kurz, reifes Urteil und guter Ton.“ Nur gute Schriftsteller verdienten nach Wielands Vorstellung „eine scharfe Beurteilung, denn an ihnen ist alles, bis auf die Fehler selbst, merkwürdig und unterrichtend“.

Wielands Maximen sind so frisch, einfach und treffsicher, daß jeder, der Bücher rezensiert, sie auch heute noch auf sein Lese- und Schreibpult legen sollte: „Unser Tadel wird daher öfter den Ton des Zweifels, der sich zu belehren sucht, als den herrischen Ton der Unfehlbarkeit haben, die ihre Richtersprüche wie Orakel von sich gibt. Man wird uns ansehen, daß wir lieber Schönheiten als Fehler bemerken; daß wir die letztern nicht mühsam suchen, aber uns ebensowenig scheuen, sie anzuhalten, wenn sie uns aufstoßen.“ Und weiter: „Wir sind uns bewußt, daß nichts als die Schranken unsrer Einsichten uns verhindern könnte, allezeit gerecht zu sein; aber eben darum werden wir über nichts urteilen, was wir nicht verstehen. Wir können uns zuweilen irren, aber wenigstens werden wir alle mögliche Behutsamkeit anwenden, damit es nicht geschehe.“ Wielands „unparteiische Kunstverständige“ sprachen „ihr Urteil öffentlich, und das Publikum bestätigt es, denn jedermann fühlt oder glaubt zu fühlen, daß er ebenso gesprochen hätte“. Ein großes Wort, eines, das auch dem Leser jederzeit zubilligt, Kunstverständiger, Rezensent zu sein.

Aber die Wirklichkeit ist immer anders, oft genug seltsam komisch. Hier sei noch ein ziemlich schlechtes Beispiel für die Kritik an der Literatur erwähnt. Am 1. Juli 1826 traten die Brockhausischen „Blätter für literarische Unterhaltung“ ans Licht der Berliner Öffentlichkeit. Sie wurden ein Menschenalter lang zum Tummelplatz anonymer und durchweg zweifelhafter Rezensenten. Auch erlag der Verlag dem Wahn, daß der Buchhändler die Literatur mache und nicht der Schriftsteller. Heinrich Heine spottete über dieses Unternehmen: „Diese sind die Höhlen, wo die unglücklichsten aller deutschen Skribler schmachten und ächzen; die hier hinabsteigen, verlieren ihren Namen und bekommen eine Nummer.“ Auch Ludwig Börne sollte für dieses dubiose Blättchen gewonnen werden, das kam für einen Mann wie Börne, den ersten freien Kritiker Deutschlands, nicht in Frage. Börne war einer, der den Leser zu durchschauen begann. Bei vielen seiner deutschen Landsleute gewann er den Eindruck, daß sie „nach einem Buche über ein Buch am meisten lüstern“ seien. Charakterschwach sah er viele Leser: „Wer sie zum Guten hinziehen will, der tue ja nichts, sondern schreibe, und wer seines Erfolges gewisser sein will, der rezensiere.“

Kritik sucht Ordnung im Zwielicht der Meinungen, im Wirrwarr der Stile und Originale. Aber, auch das ist nicht selten, Kritik macht nicht immer Gold, sondern setzt sich zuzeiten selbst ins Zwielicht unausgespielter Meinungsgegensätze. Immer wieder: zuerst nur vom Autor und von dessen Werk zu sprechen, ist Gebot dieser Zunft. Schon das aber, Walter Benjamin hat es bitter beklagt, ist ja gerade das Einfache, das so schwer zu machen ist.

Wir sind im 20. Jahrhundert angekommen. Oskar Loerke, Dichter und Lektor, kannte den Übermut auch der Autoren, die andere Autoren maßlos rühmten oder mit falscher Zunge bejubelten. Gefälligkeitskritiken haben sie fast alle geschrieben, von Goethe bis Thomas Mann reicht dieses weite, pikante Feld. Loerke spitzte es einmal ganz prächtig so zu: „Die Gabe des Urteils ist seltener als die schöpferische Gabe.“ Recht hat er, ohne deshalb nun gleich alle Urteiler (und Verurteiler) ins zutreffende richtige Licht zu heben.

Diese Sentenz besagt schließlich noch etwas anderes. Der Autor, ob Dichter oder kritischer Essayist, ist immer einer, der im Käfig seiner Ideen und Erfindungen befangen ist. Für seine Kunst ist das sogar wichtig. Als blind erweist er sich meist dann, wenn er beschreiben (loben oder tadeln) will, was der andere denn für eine Musik in seinem Geviert spielt.

Noch einer Nuance im Metier sind wir auf der Spur. Robert Musil zeigt in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften eine bisher unbeachtete Seite der Rezensententätigkeit. „Kritiker“, meint Musil, „sind sehr oft keine bösen Menschen, sondern, dank den ungünstigen Zeitumständen, gewesene Lyriker, die ihr Herz an etwas hängen müssen, um sich aussprechen zu können.“ Alles wahr und nachprüfbar. Dennoch sieht es auf der Rückseite auch wieder ganz anders aus, das Muster wird zerstört, weil im Konzert der Rezensenten immer auch einer kritisiert, der Lyriker geblieben ist. Also: Im kritischen Gewerbe scheint alles fraglich, vieles falsch zu sein. Robert Musil hilft wieder ins Freie. Mit einer „Selbstanzeige“ zum Roman Der Mann ohne Eigenschaften wird das Selbstverständlichste ausgesprochen: „Es ist kein leichtes und kein schweres Buch, denn das kommt ganz auf den Leser an. Ich glaube, ohne weiter so fortfahren zu müssen, danach sagen zu können, daß jeder, der nun wissen will, was dieses Buch ist, am besten tut, es selbst zu lesen (sich nicht auf mein oder anderer Leute Urteil zu verlassen und es selbst zu lesen).“

Das hilft im verworrenen Meinungssalat gewiß weiter. Denn noch gibt es ihn, zwischen den „Lobesversicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit“ (Kurt Tucholsky) und Verrissen ohne Zahl: den selbständigen Leser. Zu allen Zeiten: den aufmerksamen Leser, der sein Leben mit dem der Helden im Buch vergleicht, kritisch, berauschend, mitgehend, also potentiell auch immer das Urbild eines möglichen Rezensenten. Denn ohne Leser wäre auch keine Literatur. Und Kritik, soll sie Lebens-Stoff sein für den, der sie haben will, legitimiert sich allein durch Sachverstand und Witz. Deshalb zählt das Wort aller Beförderer von Literatur, vornehmlich Verleger und Lektoren, die beide auch Rezensenten sein können. Stellvertretend für viele nenne ich Moritz Heimann, geboren 1868 in Werder bei Potsdam, gestorben 1925 in Berlin. Achtundzwanzig Jahre lang war er Lektor und Autor des S. Fischer Verlages und der „Neuen Deutschen Rundschau“. Als Freund Gerhart Hauptmanns und Walther Rathenaus nahm der „lector Germaniae“, wie der Kritiker Alfred Kerr Heimann einmal genannt hat, entscheidenden Einfluß auf die literarischen Ereignisse Berlins nach 1900. Er verstand sich ausdrücklich als „Wegweiser“, „Pfortenöffner“, „Beruhiger“, „Befeuerer, Lehrer und Freund“. Im Zeitalter der Wissenschaft schrieb Moritz Heimann: „Es wurde früher und wird wohl auch jetzt noch zuweilen darüber gestritten, ob Kritik Kunst sei oder Wissenschaft - ein müßiger Streit, weil eine falsch gestellte Frage gleich mancher andern Alternative. Sie ist weder das eine noch das andre, obgleich sie zu Eigenschaften von beiden verpflichtet ist; sie ist ein Ding für sich, aus eignem Quell mit eigner Macht.“ Was folgert daraus? Der Kritiker kann „arielhaft ausschweifen, und der Witz ist einer seiner Flügel“. Doch bleiben Skrupel. Moritz Heimann stellte die Frage: „Darf ein Rezensent verraten, daß er nicht unfehlbar ist? Es gibt während des Schreibens (und jeder weiß, auch während des Denkens und Fühlens) eine Abtrift, die von der vorgeschauten Linie sacht wegdrängt. Man wollte, auf Umwegen, zu der weißen Klippe; und siehe da, man landet bei der grauen. Da springt man ins Wasser zurück und eilt zum ersten Ziele.“

Niemals hat der Kritiker das letzte Wort, auch wenn er durch und durch recht hat und es in den übermächtigen Medien heute so scheinen mag. Mit theatralischen Gebärden schwatzender Jongleure und gerissener Wortakrobaten ist der Literatur wenig gedient. Am ehesten freut sich der Buchhändler über steigenden Absatz. Im Hintergrund nimmt es der kritisierte Autor allerdings auch nicht ungern auf. Haben die Autoren des Etymologischen Wörterbuches sich doch keinen Scherz erlaubt, als sie das Wort „rezensieren“ zwischen „Revue“ und „Rezept“ setzten? Denn das trifft haargenau den Standpunkt der Medien, vorzüglich den des Fernsehens.

Auch Max Frisch klagte in den ersten Nachkriegsjahren über die krittelnde Meute. Anfang 1949 schreibt er ins „Tagebuch“: „Goethe gibt den Rat, man solle einem Rezensenten niemals antworten, es sei denn, er behaupte in seiner Rezension, man habe zwölf silberne Löffel gestohlen - doch so weit gehen unsere Rezensenten kaum. Es bleibt also wirklich nur eins: schweigen und weitermachen, solange man Lust dazu hat, sein eigener Kritiker werden, keine silbernen Löffel stehlen und basta! - und dankbar sein, wenn eine Rezension, ob lobend oder tadelnd, ernsthaft ist, anständig, indem sie nicht annimmt, daß der Verfasser selber keine Bedenken und Einwände habe gegen sein Werk; solche Rezensionen gibt es ja auch, sogar mehr, als unser Gefühl zugibt; ein Mensch, der uns bei Tisch etwa das Salz gibt, zählt ja nicht weniger als jener, der uns in die Suppe spuckt, aber der letztere beschäftigt uns länger, und leider weiß er das, auch wenn man ihm nicht antwortet.“

Die Methoden sind zu allen Zeiten dieselben, und auch die Ingredienzen eindeutig: Süßstoff, Salz, Spucke. So befördert man Bücher zu Ramsch oder lobt sie in die Bestsellerlisten. Wie produktiv das Verhältnis zwischen Autoren und Kritikern aber dennoch immer wieder mal sein kann, erhellt eine längere Episode aus der jüngeren Literaturgeschichte. Dreißig Jahre lang vereinten die Tagungen der Gruppe 47 Schriftsteller und Kritiker unter einem Dach. Mit welcher Sicherheit Literatur in jenen Jahren von namhaften und jungen Kritikern, von den Autoren untereinander selbst bewertet wurde, zeigt allein der Blick auf die Liste der Preisträger in den fünfziger Jahren. Die seinerzeit kaum bekannten Autoren waren zum Beispiel Günter Eich, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Günter Grass und Martin Walser.

1977, Der Butt von Günter Grass war soeben erschienen, schieden sich längst die Geister von- und untereinander. Der Roman wurde kritisiert, der Autor selbst auch kritisierte heftig die Kritiker. Grass bedauerte auf der letzten Tagung der Gruppe 47 damals ironisch, daß das gerade verabschiedete Ehescheidungsrecht nicht auch auf das Verhältnis Autor-Kritiker angewendet werde. Marcel Reich-Ranicki, nicht ganz so ironisch-unmittelbar wie der Erzähler Grass und fortan bis auf den heutigen Tag mit Günter Grass in wunderlich-verworrene Streitgefechte verwickelt, kommentierte die Ehestandsäußerung von Grass damals so: „Dem ist zu entnehmen, daß Grass sich von manchen seiner Kritiker gern trennen und sich andere wählen möchte. Er träumt offenbar von einer harmonischen Beziehung.“

Harmonie ist ein Wort, das in dieser Beziehung das falsche ist. Ob sie nun wollen oder nicht, Autoren und Kritiker, Kritiker und Autoren, sie gehören zusammen, sollten sich aber vor harmonischen Beziehungen hüten. Es gibt schon genug davon.

Das Feld der Phantasie bleibt die Domäne der Literatur. Dennoch können die Wirrnisse und Verkettungen zwischen Autoren und Rezensenten auch produktiv sein, ja sogar selbst wieder Literatur werden. Und Kritik vermag so, selten zwar, sich Literatur anzunähern. Mehr aber sorgt das krittelnde Gewerbe für anhaltend-galoppierende Unerfreulichkeiten. Essayistisch verbrämt, brechen alle paar Jahre gar Gefechte über die Medienlandschaft herein, die Kriegscharakter haben. Peter Rühmkorf sprach kürzlich vom „zeitgenössischen Schnellgerichtsbetrieb“, bei dem einem Dichter „ganz blümerant zumute werden kann“.

Witz, Urteilskraft und historische Kenntnisse der „geschehenen Dinge“ (Lessing) sind selten geworden. Doch können die Autoren selbst den rezensierenden Monstern mit Phantasie, notfalls auch mit Phantastik beizukommen versuchen. Schon Rabelais freute sich des Einfalls, Rezensionen über Bücher zu schreiben, die es gar nicht gibt. Der Argentinier Borges gab die „Untersuchung des Werkes von Herbert Quain“ bekannt, obwohl alles pure Erfindung war. Stanislaw Lem schließlich schrieb Anfang der siebziger Jahre Das absolute Vakuum, ein Buch, in dem nur Rezensionen über ungeschriebene Bücher versammelt sind. Ein Spiel mit Möglichkeiten, auch eine Form der Anti-Kritik. Lem argumentierte folgendermaßen: „Wer einen Roman schreibt, begibt sich der schöpferischen Freiheit. Wer Rezensionen schreibt, begibt sich in eine noch schändlichere Sklaverei.“ Und weil der Rezensent in diesem Gedankengang wie ein Galeerensklave an das Werk gekettet ist, wird die Idee ausgemalt, fiktive Bücher zu rezensieren. Denn: „Das ist die Chance, die schöpferische Freiheit zurückzugewinnen und zugleich beide gegensätzliche Geister, Belletristik und Kritik, zu vermählen.“ Da ist er wieder, der Gedanke von Ehe und Trennung in der Kunst. Lems Buch ist amüsant und schauerlich zugleich. Der „Pseudorezensent“ beschreibt sogar ein Buch - „Nichts, oder die Konsequenz“ -, das es nicht nur nicht gibt, sondern auch gar nicht geben kann. Auf den ersten Blick scheint es, als könne Kritik als Hyper-Kritik Literatur überlisten, beim genaueren Hinsehen aber ist es ganz harmlos, so arbeitet jeder begabte literarische Kopf, der Erfindungen ausbrütet.

Was lernt der Leser daraus? Kaum mehr als, es ist schwierig, ein Rezensent zu sein.

Der Blick in den gegenwärtigen Blätterwald macht es deutlich, diesmal sind die Rezensenten unter die Klimaforscher gegangen. Nun beginnen ihre Beiträge über Romane schon so: „Es ist kalt geworden. Außergewöhnliches Gespür für Schnee ist längst nicht mehr nötig, um die ,neue Eiszeit‘ in der Gegenwartsliteratur auszumachen.“ Nur einen Monat früher, gleiche Stelle, gleiche Welle, stand: „Wer von den Geschehnissen und Stimmungen dieses Romans berichten will, der muß zunächst über das Wetter sprechen.“ Der skeptische Leser gönnt sich, müde geworden, daraufhin erst mal eine produktive Ruhepause, versüßt mit einem unkritischen Jux des Dichters Joachim Ringelnatz: „Schonet das Schweigen. Es sagt doch nichts.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite