Annotation: Belletristik

Keller, Nora Okja:
Die Trostfrau

Roman. Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-van der Tann.
Limes Verlag, München 1997, 280 S.

Es gibt Romane, die transzendentale Vorgänge so behandeln, daß sie Ferngelegenes heranrücken, bis wir es als eigenes empfinden. Romane, die Realität und Überwirklichkeit in einer Art verschmelzen, daß wir uns selbst um so besser erkennen. Darauf beruht die weltweite Wirkung der Werke von Amy Tan, einer Amerikanerin chinesischer Herkunft. Nora Okja Keller, eine Amerikanerin koreanischer Abstammung, verfährt gegenteilig. Sie versenkt sich in den Mythos und die Geisterwelt ihrer koreanischen Heimat, stilisiert die Handlung ihres Buches kunstvoll, rückt sie von uns weg. Wir bestaunen die Vorgänge, aber sie erscheinen exotisch, nicht uns betreffend. Sie interessieren in dem Maße, in dem wir uns die Welt anzueignen suchen, aber sie treffen uns nicht unmittelbar und gefühlsmäßig. Es bleibt eine Distanz. Wir vermögen die Machart zu schätzen. Aber nicht einzutauchen in die geschilderte Welt. Das mindert nicht den Kunstwert, aber ganz gewiß die Breitenwirkung. Die Welt kennt Amy Tan, aber wer kennt N. O. Keller?

Natürlich ist dieser Vergleich ungerecht, denn N.O. Keller hat sich bisher - auf Hawaii als Journalistin und Schriftstellerin lebend - nur in Essays und Erzählungen mit dem Thema „Asiaten in Amerika“ befaßt, und Die Trostfrau (1997) ist ihr erster Roman. Aber die andersartige Methode, die die Annäherung erschwert, fällt eben auf: Die Autorin ist den Riten und Bräuchen ihrer Heimat tiefer verbunden, als daß sie diese kulturelle Vorstellungswelt auf der Grundlage ihrer amerikanischen Erfahrungen zu vermitteln vermag.

Was sind Trostfrauen? So nennt man jene blutjungen koreanischen Mädchen, die während des Zweiten Weltkrieges von den japanischen Besatzern aufgekauft oder ganz einfach weggefangen und in Vergnügungslagern interniert wurden. Dort durften sich die japanischen Soldaten an ihnen austoben. Die Überlebenschancen waren gering. Die meisten Mädchen verbluteten infolge massenhafter Brutalität, andere infizierten sich mit Geschlechtskrankheiten und wurden dann kurzerhand erschossen, wer auch nur passiven Widerstand leistete, wurde gepfählt.

Das Buch erzählt von Soon Hyo, genannt Akiko, einem Mädchen, das diese Hölle durchlitt und ihr entkam. Sie vermochte sich in eine amerikanische Mission zu retten. Einer der Geistlichen dort ging die Ehe mit ihr ein und nahm sie nach Kriegsende mit nach Amerika. Das Ehepaar bekam eine Tochter, Rebeccah, genannt Beccah. Der Missionar starb sehr bald, und es entwickelte sich nun eine überaus innige und intensive Mutter-Tochter-Beziehung, obwohl Akiko ein Beccah ängstigendes Leben als Seherin und Wahrsagerin mit langwierigen Trance-Zuständen und Umgang mit Geistern führte. Erst nach dem Tode der Mutter eröffnet sich Beccah die ganze Wahrheit über die Vergangenheit der Mutter, und sie erkennt, daß Akiko aus der Verankerung in der Mythologie, aus der Verbundenheit mit den Vorfahren, aus dem Glauben an Götter und Geister die Kraft schöpfte, mittels der es ihr gelang, das Inferno zu überleben. Beccah bleibt nicht als emanzipierte Amerikanerin zurück, sondern tief geprägt von der koreanischen Sagen- und Geisterwelt.

Diese Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sie erschließt sich nur sprunghaft und punktuell, indem jede der beiden Frauen abwechselnd in eigenen Kapiteln das Wort ergreift. Jede äußert sich auf Grund einer anderen Situation, zu einem anderen Zeitpunkt, zu einem anderen Gegenstand, einen Autorkommentar gibt es nicht. Das Puzzle ist freilich so kunstvoll konstruiert, daß sich dem Leser schließlich die ganze Story vermittelt. Gedanken und Gefühle werden überaus sensibel formuliert, und die Übersetzung transportiert die poetische Ausdrucksform sehr gut. Trotzdem ist der Zugang nicht einfach und die Lektüre sicher nicht jedermanns Sache.

Hans-Rainer John


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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