Annotation: Sachbuch

Gehlhar, Fritz:
Wie der Mensch seinen Kosmos schuf

Eine kleine Kulturgeschichte der Astronomie.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1996, 202 S.

Der Titel des Buches - und das Anliegen des Autors - könnten mißverstanden werden: Als Anmaßung, die den Menschen anstelle Gottes oder eines Weltgeistes setzt, der Himmel und Erde geschaffen hat. Oder - näherliegend - im Sinne eines zugespitzten subjektiven Idealismus, für den die Welt nicht als objektive Realität, sondern nur als Komplex von menschlichen Sinnesempfindungen existiert. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, daß Gehlhar, ein studierter Physiker und Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität, das Problem dialektisch angeht: Der Mensch entdeckt und schafft den Kosmos. Er dringt zunehmend in die objektive Realität vor und schöpft aus diesen Erkenntnissen sein subjektives Weltbild. Das wird bedingt durch den Charakter der menschlichen Sinnesorgane, den jeweils erreichten Erkenntnisstand und die Stellung des Menschen in der Welt. Insofern ist diese gut lesbare populärwissenschaftliche Schrift auch nicht so sehr eine Geschichte der Astronomie, sondern eine kulturhistorische Darlegung darüber, wie der Mensch astronomische Kenntnisse für sein irdisches Leben nützt und sich daraus seine Vorstellungen über Gott (bzw. Götter) und die Welt macht. Der Exkurs reicht von den „sternkundigen Weisen aus dem Morgenland“, den Kosmosvorstellungen der altgriechischen Philosophen (wobei Kosmos im Griechischen ursprünglich Ordnung oder Schmuck bedeutet) und denen frühislamischer Gelehrter über den „Kosmosmenschen“ einer Hildegard von Bingen (1098-1179), dem heliozentrischen Weltsystem des Copernicus und Kants „Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (1755) bis zu Einsteins Relativitätstheorie und den Bemühungen der modernen Physik, den „Urknall“ zu erklären und sich einen „oszillierenden Kosmos“ oder einen „Nullpunkt der Zeit“ vorzustellen. Dabei macht Gehlhar deutlich, daß jede Erkenntnis relativ ist und jede geklärte Frage eine Vielzahl neuer aufwirft. Er zeigt zum Beispiel, daß die Theorie von einem Urknall vor ca. 18 Milliarden Jahren heute zwar so gut wie unumstritten ist und auch vom Papst die Weihe als „Werk Gottes“ erhalten hat, sie aber Fragen aufwirft wie: Welche Kräfte haben den Urknall bewirkt? Was war vorher? Folgt der Expansion des Weltalls eine Implosion? Sind viele Kosmen, Welten und Gegenwelten denkbar? Gehlhars Büchlein hilft nicht nur, kulturhistorische und philosophiegeschichtliche Kenntnisse zu vertiefen, es stellt auch einen gelungenen Versuch dar, moderne Erkenntnisse der Physik und der Kosmologie für Nichtfachleute aufzubereiten. Die Titelseite mit einem Hologramm nach Leonardo da Vinci, die zahlreichen Farbtafeln, historischen Stiche und anschaulichen grafischen Darstellungen im Inneren machen es zudem ausgesprochen attraktiv.

Horst Wagner


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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