Rezension

 

Ansichten über ein liebenswertes Dorf

Das letzte Berliner Dorf
750 Jahre Lübars.

Herausgegeben vom Bezirksamt Reinickendorf/Heimatmuseum.
Jaron Verlag, Berlin 1997, 175 S.

 

Lübars gilt als das einzige Dorf in Berlin, das nicht Dorf heißt wie etwa Zehlendorf oder Wilmersdorf, dafür aber wirklich noch ein Dorf ist. Zugleich ist es die Wiege Reinickendorfs, der älteste Ortsteil dieses Bezirks im Norden von Berlin. Als Dorf erstmals 1247 urkundlich erwähnt, konnte es 1997 sein 750jähriges Jubiläum feiern. Dazu fanden von August bis Oktober, gemeinsam von Lübarser Familien, der Kirche, Bezirksamt, Heimatmuseum, Vereinen, von Historikern und Künstlern vorbereitet, verschiedene festliche Veranstaltungen statt. Die ebenso interessante wie wechselvolle Geschichte des letzten Berliner Bauerndorfes wurde in einer Ausstellung und, damit im Zusammenhang stehend, in der Festschrift „750 Jahre Lübars“, die rechtzeitig zum Dorfjubiläum vorlag, akribisch nachvollzogen. Von Pfarrer Axel Luther initiiert, war für die Realisierung von Ausstellung und Festschrift 1996 eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen worden. Beides konnte dann in knapp einjähriger Arbeit unter Federführung des Reinickendorfer Heimatmuseums in die Tat umgesetzt werden.

Stark dokumentarisch geprägt, mit vielen Fotos, Faksimiles und Karten angereichert, wird in der vorliegenden Publikation die Geschichte von Lübars aus den verschiedensten Blickwinkeln heraus dargestellt. Deutlich wird dabei Vergangenes ebenso wie der heutige Alltag; alles, was zu Papier gebracht wurde, kommt durchaus nicht so „festlich“ daher, wie man vielleicht vermuten könnte. Gerade die nüchterne, konkret-anschauliche Form der Darstellung, auf die Geschichte der „eigenen kleinen Welt“ bezogen - wie Pfarrer Axel Luther, selbst auch Autor eines thematisch wichtigen Beitrages in der Publikation, es formuliert hat -, erweist sich als Vorzug und weckt Verständnis und Sympathien für das liebenswerte Dorf. An dieses wird der Leser geradezu behutsam herangeführt in einem einführenden Beitrag „Spaziergang durch Lübars“. Autor Klaus Schlickeiser, ein Reinickendorfer Heimatforscher, hat eine wahre Fülle von Akten und Dokumenten der verschiedensten Art, insbesondere Bau- und Grundstücksakten, für diesen historisch bis in kleinste Details untersetzten Rundgang durchgearbeitet: Er führt den Leser zunächst einmal zur Lübarser Dorfaue, wo das Antlitz des alten Lübars in seinem Kern bis zum heutigen Tag erhalten geblieben ist. Weiter geht es durch das „Vogtland“ - es entstand im 19. Jahrhundert als „Vorort“ vor dem westlichen Dorfeingang, wobei Anlaß für die Namensgebung sicher weniger Zugezogene aus dem sächsischen Vogtland waren, sondern es sich einfach um eine Übertragung jenes Berliner Begriffs (für die Vorstadt zwischen Oranienburger und Rosenthaler Tor) handelte. Abschließend wird durch die frühere Lübarser Feldmark gewandert, durch die neuentstandenen Siedlungen, Kleingartenanlagen und die ganze nähere Umgebung.

Ein zweiter tragender Beitrag behandelt „Mosaiksteine aus der frühen Geschichte von Lübars“. Autor ist Axel Luther, langjähriger Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde und leidenschaftlicher Erforscher der Ortsgeschichte. Geradezu spannend liest sich die mühsame Suche nach der ersten urkundlichen Erwähnung von Lübars - ein Datum, das, wie könnte es anders sein, gleichsam der Grundstein ist, auf dem das Gebäude der Ortschronik errichtet werden kann. Es findet sich im Verzeichnis der 1541 im Spandauer Nonnenkloster aufgefundenen Urkunden; die Urkunde Nr. 52 ist „ein vorschreibung marggraf Johansen und Otten belangt die beuth der Dorffer Krummesehe und Lubars datum 1247“. Damit ist, auch wenn die Urkunde von 1247 heute verschollen ist, das älteste Dokument gefunden, in dem die Existenz von Lübars bezeugt wird; mit diesem Datum tritt Lübars „ins Licht der Geschichte“. Der Autor beschreibt dann eingehend, wie das Dorf von alters her mit Spandau - zuerst mit dem Kloster St. Marien, dann mit dem kurfürstlichen und schließlich mit dem königlichen Amt in Spandau - verbunden war und endet mit dem großen Dorfbrand von 1790, der vieles im Dorf zerstört hatte, auch die alte Fachwerkkirche. Drei Jahre später wurde dann eine neue Kirche im Stil von Langhans errichtet, die fortan alle Zeiten überdauert hat; die Turmfahne, die sich auf ihr noch heute dreht, benennt das Jahr 1793.

Die Festschrift enthält darüber hinaus eine Reihe von Einzelbeiträgen, die das Dorfjubiläum zum Anlaß nehmen, das Leben vor Ort zu den verschiedensten Zeiten und unter allen nur möglichen Gesichtspunkten zu behandeln: so von Torsten Dressler, Archäologiestudent, zur Lübarser Ur- und Frühgeschichte; von Harry Pohle über die Lübarser Ziegelei; von Sabine Hillebrecht zur Geschichte des „Labsaals“, heute ein Kulturzentrum mit beträchtlicher Resonanz. Ingolf Wernicke, der Leiter des Heimatmuseums, untersucht die Zeit von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gründung des Bezirkes Reinickendorf im Jahre 1920. Ulrike Wahlich widmet sich den Auswirkungen der nationalsozialistischen Agrar- und Siedlungspolitik und dem Kriegsende. Interesse beanspruchen die Ausführungen über das Kapitel zu Lübars in dem zu den Berliner 700-Jahr-Feierlichkeiten 1937 erschienenen Buch „Marsch in die Heimat“.

Darauf folgt die Entwicklung des Dorfes nach dem Zweiten Weltkrieg: von der Besatzungszeit (Reinickendorf gehörte zum französischen Sektor), den Auswirkungen der Teilung Berlins und der späteren Errichtung der Mauer, der damit verbundenen aufgezwungenen Abschnürung des Dorfes von seinem Umland bis zur Wiedervereinigung und deren nun wiederum verändernden Folgen für das jetzt plötzlich von allen Seiten zugängliche Dorf; von seiner im Laufe der Jahre immer ausgeprägteren Rolle als idyllischem Anziehungspunkt für die Menschen im westlichen Teil der Stadt und davon, wie sich das heute darstellt, da wieder problemlos viele neue attraktive Ziele angesteuert werden können; von der subventionierten landwirtschaftlichen Produktion und vom (in mancher Hinsicht gar nicht so willkommenen, aber in Kauf genommenen) Tourismus bis zur Frage, wie es schließlich gelungen ist, im Schatten von Siedlungen und Anlagen (Lübars hat alles in allem 5000 Einwohner), im Schatten auch des in den 60er Jahren buchstäblich aus dem Boden gestampften Märkischen Viertels - zumindest in einem kleinen Kern an der Straße Alt-Lübars - als „letztes Bauerndorf Berlins“ zu überleben. Natürlich waren einer solchen Publikation auch Grenzen gesetzt, konnte sie nicht ausufern, auch wenn möglicherweise ein wenig mehr zu den 60er und 70er Jahren hätte gesagt werden können. Das Interview, das Ingolf Wernicke mit dem Landwirt Joachim Kühne geführt hat, beleuchtet einige Probleme, die es gerade in jener Zeit bei der Umstrukturierung der einzelnen Betriebe von der landwirtschaftlichen Produktion zu Dienstleistungsbetrieben gegeben hat.

Bei vielen, die mit dem Pferdesport nicht so vertraut sind, wird am Schluß möglicherweise auch der Beitrag von Klaus Göbel auf Interesse stoßen, in dem die Entwicklung von Lübars zum Reiterdorf beschrieben wird. Die Feststellung ist gewiß nicht übertrieben, daß es das Pferd gewissermaßen ermöglicht hat, dem Ort einen dörflichen Charakter und damit ursprünglichen Reiz zu bewahren. Überleben können die betreffenden Höfe zur Zeit vor allem vom Reitsport und daraus erwachsenden Beschäftigungen. Dabei wird, auch das erfährt der Leser, eine Ausgewogenheit von landwirtschaftlicher Lebensmöglichkeit und Erhalt der Natur angestrebt.

Hans Aschenbrenner


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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