Rezension

 

Denken im Zwiespalt

Werner von Bergen/Walter H. Pehle (Hrsg.):
Über den Verrat von Intellektuellen im 20. Jahrhundert

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1996, 143 S.

Die vorliegende Sammlung ist das Ergebnis der 3. Frankfurter Historiker-Vorlesungen, an denen sich namhafte Persönlichkeiten und weniger bekannte Fachleute beteiligten und ihre Sicht zum Intellektuellen-Problem darstellten. Betrachtet man die einzelnen Beiträge im Kontext der neueren und neuesten Wortmeldungen zu diesem Thema, dann erscheint die Ankündigung der Herausgeber in ihrer Vorbemerkung mehr als hochgestapelt: „Jeder der Autoren hat es gewagt, sich auf ideologisch vermintes Gelände zu begeben und sich durch das Gestrüpp der blockbildenden Vorurteile eines ganzen Jahrhunderts zu arbeiten.“ (S.8) Keiner der Autoren löst dieses Versprechen ein. Und es wäre wohl auch von den knappen Artikeln zuviel verlangt. Einige Autoren fassen Bekanntes und bereits Gesagtes unter heutiger Sicht zusammen, andere suchen originellere Wege, um das Problem neu zu thematisieren. Und einige bemühen sich, mit zugespitzten Thesen Bewegung in festgefahrene Stellungen zu bringen.

Die Frage nach dem Intellektuellen im 20. Jahrhundert, seinem Verhältnis zur politischen Macht, seinen eigentlichen und seinen angemaßten Aufgaben wird über das ganze Jahrhundert hinweg kontrovers diskutiert. Streitschriften der unterschiedlichsten Art belegen die Standpunkte, die dabei bisher bezogen worden sind. Charakteristisch ist ein diffuses Verständnis vom Intellektuellen und seinem Platz in der Gesellschaft. Wo eigentlich eine nüchterne Analyse, eine sachliche Anatomie einer gesellschaftlichen Gruppierung erforderlich wäre, herrschen Pro und Kontra, Gut oder Böse, Links oder Rechts usw. vor. Man kann Heiner Geißler („Wie mörderisch ist Utopie?“) nur zustimmen, wenn er vor den simplen, vereinfachenden Antworten auf immer komplexere Probleme warnt. Obwohl: Seine Feststellung „Der Sozialismus nach DDR-Prägung war eine unmoralische Ordnung“ (S. 14) gibt auch nur eine sehr einfache Antwort auf das komplizierte Beziehungsgeflecht von Politik und Moral im 20. Jahrhundert. Und erklärt, analysiert ist damit nichts.

Heiner Geißler geht die Frage m. E. jedoch als einziger von der eigentlichen historischen Dimension an, die erforderlich ist. Danach sind wir „Zeitzeugen eines der größten Umbrüche, die die Weltgeschichte in den letzten 2000 Jahren erlebt hat“. (S. 11/12) Er benennt die Gefahren unserer Zeit - den Kollektivismus, den Nationalismus, den Absolutismus - und fordert dagegen die Anerkennung der Universalität der Menschenrechte.

Jens Reich, der sich zum gleichen Thema („Wie mörderisch ist Utopie?“) äußert, trägt Beispiele für den Terror im Namen einer angeblich guten Sache zusammen und endet mit der Hoffnung, daß sich die Genozide und Pogrome des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen mögen. Dafür fordert er mehr Aufklärung.

Um das Problem des linken Renegaten geht es vor allem in den Beiträgen von Michael Rohrwasser, der zwölf Thesen zur Faszination des Stalinismus entwirft und diskutiert, und von Joschka Fischer, der von einem aktuellen Vakuum spricht, in das Sinngebungen der Vergangenheit einzudringen drohen. „Ich fürchte, daß die linke Intelligenz gegenwärtig aus tiefer Rat- und Perspektivlosigkeit schweigt, und in dem dadurch entstehenden Vakuum sehe ich das eigentliche Problem der Zukunft“, (S. 90) lautet seine pessimistische Prognose.

Wolfgang Kraushaar unternimmt den interessanten Versuch, Haltungen von linken Intellektuellen der letzten fünfzig Jahre an drei Prozessen zu verdeutlichen, in denen es ebenfalls um „Renegaten“ ging. Patrik von zur Mühlen geht auf die Beziehung zu den deutschen Emigranten nach 1945 ein.

Carl Amery und Elisabeth Lenk sind die einzigen, die zumindest versuchen, eine Klärung des Begriffsumfangs des „Intellektuellen“ anzubieten. Ihr gemeinsames Thema („Warum retten uns die Intellektuellen nicht?“), das sie allerdings unterschiedlich behandeln, führt sie zu solchen Bestimmungen wie „Intellektuelle sind Einzelne, ... die Seismographen für die vielen Strömungen eines Landes darstellen“ (Lenk, S. 111, 113); „Intellektuelle sind Produkt und Produzierende der Aufklärung, ... die heute den zwingenden Auftrag haben, ...über ein menschenwürdiges Programm zur Lösung der Gattungsfrage der Menschheit nachzudenken“ (Amery, S. 93, 100).

Insgesamt regen die verschiedenen Beiträge zum Nachdenken über unser Jahrhundert an - ganz gleich, welches Interesse man an den Intellektuellen und ihrem Schicksal hat. Denn eigentlich geht es weniger um ein Denken im Zwiespalt als um ein zwiespältiges Jahrhundert, das an das Nach-Denken ganz neue Anforderungen stellt.

Eberhard Fromm


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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