Rezension

 

Die große Fliegenklatsche

Wiktor Pelewin: Das Leben der Insekten

Aus dem Russischen von Andreas Trentner.
Reclam Verlag, Leipzig 1997, 209 S.

 

In höchst elitärer Aufmachung hat sich Reclam dieses jungen Russen angenommen, von dem bereits im selben Verlag, 1995 und 1996, zwei Bücher erschienen sind. Leider kenne ich sie nicht. Aber nach dem Lesen dieses „Insektenlebens“ werde ich mich mit Sicherheit um sie kümmern.

Das Buch, blau, lindgrün und weiß, liegt hinreißend in der Hand, es ist einfach schön in Satz und Schrift und Format und schon in dieser Hinsicht eine wahre Freude. So kann man sicher auch Ernst Jünger herausgeben, dessen Interesse an Insekten bekanntlich ja auch vorhanden ist, der freilich bei der Lektüre dieses Buches nicht auf seine Kosten kommen würde. Denn was drin steht in diesem wunderhübschen Buch, das ist so frech, so dreckig und so respektlos, daß Aufmachung und Inhalt eigentlich in krassem Gegensatz stehen. Ja, wie sag ich's. Auch wenn Krylow, der große russische Fabeldichter, einmal sogar, gleichsam als geistiger Übervater, benannt wird: Also Fabeln sind das nicht. Es sind auch keine Allegorien. Hier wird nicht, wie im „Reineke Fuchs“ etwa, das Tier zum Träger der menschlichen Eigenschaft. Pelewins Protagonisten sind gleichzeitig beides, und die Übergänge von einer Gattung in die andere erfolgen blitzschnell und absolut verblüffend.

In einem vergammelten postsowjetischen Kurort auf der Krim sind sie alle versammelt: die blutsaugenden Mücken, die gerade dabei sind, ein Joint-venture mit einer amerikanischen Anopheles abzuschließen, die Pillendreher, die ihre Kugel Mist wie Sisyphos über vom Nebel verschleierte Betonplatten aufs Meer zu schieben, die philosophisch angehauchten Nachtfalter, die nach dem Sinn des Lebens suchen, ebenso wie die kleine grüne Schmeißfliege, die sich gleich an den Ami ranmacht. Die Ameisenkönigin und ihre Kinder und der ferne autoritäre Militärstaat „Madagan“ und nicht zu vergessen die Hanfflöhe-Drogendealer.

Und nun hört sich das natürlich doch wieder nach einer Satire-Parabel an - was eben nicht ist! Pelewin schafft (in den meisten Fällen) etwas ganz anderes, ganz Neues. Das Faszinosum des Buches besteht in diesem Fakt.

Eben hockte ich noch mit drei menschlichen (ziemlich fiesen) Typen auf dem trostlosen Balkon irgendeines abgewrackten Kurhauses, schon springen sie „mit den geübten Bewegungen eines Sportlers“ von der Brüstung ab und fliegen als Mücken übers Meer. Eben noch sitzen besagte Typen, menschlich, versteht sich, beim Essen („Wir sind als Restaurant eingestuft. Wartezeit vierzig Minuten“), da entdeckt einer der Herren zwischen Kartoffelpüree und Möhre eine junge Fliege, die er vorsichtig zwischen zwei Finger nimmt und auf einen freien Stuhl setzt. Die Fliege ist in kürzester Zeit - in der Zeit eines Absatzes - ein junges Mädchen in grünem Kleid, Ponyfransen, süße Titten. Und drei Seiten weiter flüstert sie: „Sag, Sam, gibt es in Amerika viel Scheiße?“ Denn davon lebt sie ja schließlich.

Und mit roten Pumps, Sonnenbrillen und Handtaschen mit dem notwendigen Zubehör, zum Beispiel Schaufeln, landen die befruchtungsbereiten Ameisenmädchen en masse auf der Promenade und trennen sich die Flügel ab, um in die Disco zu gehen. Dabei zerquetscht auch schon mal so ein roter Pumps im Landeanflug einen mühselig dahinkriechenden Pillendreher, raucht Anopheles Sam Sucker aus den Staaten einen Joint, in dem zwei Hanfflöhe verpuffen, haut Zuckerbaby Schmeißfliege Natascha eine Mücke auf ihrem Schenkel tot, denn „Insekten töten einander, manchmal ohne es zu ahnen“.

Von hinreißender Komik und ein Paradebeispiel für das Konstruktionsprinzip des Buches ist das Kapitel „Der schwarze Reiter“: Maxim und Nikita, vergammelte Künstlertypen, Drogendealer und -konsumenten, machen sich mit Hilfe einer Lupe mit der Existenz von Hanfflöhen im Stoff bekannt, die beim Rauchen das komische Puffen verursachen, wenn sie verglühen. Sie unterhalten sich darüber, daß die Tierchen jetzt schon als eine Art Warnbarometer bei Annäherung von „Bullen“ eingesetzt werden. Kurz vor einer Razzia werden sie, wenn man ein Marmeladenglas über sie stülpt, unruhig und schwärmen aus. Dann machen sich beide auf den Weg - von Unruhe erfaßt -, werden verfolgt, flüchten sich in eine Röhre - und sind auf einmal selbst die Hanfflöhe in einem Joint, der geraucht wird.

Über einen satirischen, Zeitgeist vermittelnden, milieugenauen Inhalt und Gehalt hinaus leistet das Buch etwas, was Literatur als einzige Kunstform überhaupt in dieser Weise vermag: Die Sprünge von innen nach außen, von einer Daseinsform in die andere, die wunderbare Gleichzeitigkeit in der Realität unvereinbarer Zustände, der stufenlose Sprung etwa von Größe zu Kleinheit oder zurück; das eröffnet (Alp-)Traum-Wirklichkeiten, surreale Landschaften des Geistes, Höhen-Insekten-Flüge der Phantasie. Die bitterbösen und bei aller Frechheit letztlich zutiefst melancholischen Miniaturen haben ein einziges Bindeglied: Ohne einander zu kennen, oft ohne von der Existenz des anderen zu ahnen, töten sie sich wechselseitig bei ihrem Gang durch die Metamorphosen; echte Kontakte zwischen den einsamen Individuen sind nicht mehr möglich, Gefühle sind zu Sprechblasen verkommen.

Bedarf es noch der Erwähnung, daß hier ein Porträt des Rußlands nach dem Sozialismus von beißender Schärfe und herzzerreißender Tristesse entsteht? Ein äußerst gelungenes Machwerk. Es gibt ein, zwei Kapitel, wo Pelewin ein bißchen zu stark den Moralisten herauskehrt (der er natürlich ist). Dann verläßt ihn die Balance auf seinem Drahtseil zwischen Sein und Schein, und es kommt nur noch die Parabel raus. Aber das überwiegt nicht. Und wem dies oder jenes vielleicht zu schrill oder zu eklig vorkommt, der nehme das Kapitel 7 vor, in dem zwei von einer Fledermaus verfolgte Nachtfalter über den Sinn des Lebens und die Relativität aller Existenz philosophieren.

Waldtraut Lewin


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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