Rezension

 

Tod eines Ministerpräsidenten

Robert Hültner: Inspektor Kajetan und die Sache Koslowski
Eine Kriminalerzählung.

Edition Ulenspiegel im Verlag Georg Simader, Frankfurt/M. 1995, 200 S.

 

„Dies ist eine Kriminalerzählung. Ist sie für den einen oder die andere hingegen eher eine Liebesgeschichte, oder gar - was immer das ist - ein Heimatroman, so mag das auch richtig sein. Nur eines will das Buch mit Sicherheit nicht sein: Die historisch-wissenschaftliche, exakte Darstellung der dramatischen Geschehnisse in München zum Ende des 1. Weltkriegs ...“, schreibt der Autor in einer kurzen Vorbemerkung.

Die Handlung beginnt mit dem Attentat auf Kurt Eisner, im Text der Präsident genannt. Nun ist über den Tod des ersten Ministerpräsidenten des republikanischen Freistaates Bayern schon viel geschrieben worden, und die Geschichte vom verwirrten Einzeltäter Graf von Arco rief zu Recht Zweifel hervor. Warum also nicht den Fall zum Gegenstand eines mehr oder weniger fiktiven Politkrimis machen?

Allerdings mag man über solch ein Sujet geteilter Meinung sein. Besonders die Leser aus den neuen Bundesländern sind in ihrer Vergangenheit mehr als genug mit tendenziöser Literatur versorgt worden, bei der die Sieger der Geschichte von vornherein feststanden, obwohl wir ja wissen, wer letztlich die reaktionären Sieger über Mehrheitssozialisten, USPD, Spartakus, über die Bayrische Räterepublik waren. Da könnte mancher denken: „Politisch' Lied, garstig' Lied“ und mit spitzen Fingern die folgenden Seiten umblättern.

Zum Glück schwinden derlei Bedenken schon auf Seite 12, wenn Robert Hültner die Familie Riemer einführt, die Riemerischen, die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ins Hallberger Hochland gekommen sind, ein abgelegenes, heruntergewirtschaftetes Gehöft erworben und mit Fleiß und Entbehrungen zu einem soliden Anwesen gemacht haben. Hültner erzählt vom Schicksal dieser Familie, die binnen weniger Jahre ohne eigenes Verschulden, einzig und allein durch die Wirren der Geschichte - genauer: durch verbrecherische Politik - vernichtet wurde. Und er betont: „Was diese (Familie) so vernichtend getroffen hatte, geschah auch anderen und geschah zu oft in jenen Jahren, als daß die Tragödie einzelner noch wahrgenommen werden konnte. Haushalten mußte ein jeder mit seinem Mitleiden ...“

Es beginnt damit, daß der älteste Sohn Josef, der Hoferbe, im Ersten Weltkrieg fällt, ein Schlag, von dem sich seine Eltern nie erholen. Der zweite Sohn Hans ist während der Kämpfe verschüttet worden, konnte zwar gerettet werden, ist aber seither völlig verändert in seinem Verhalten und lebensuntüchtig. Er und seine Schwester Jule, ein schönes und sensibles Mädchen, werden auf verhängnisvolle Weise in den Präsidentenmordfall verwickelt und dabei zerstört.

Beklemmend, wie sich in den chaotischen Notzeiten die völkische Bewegung formiert. Baron von Bottendorf, ein menschenverachtender Abenteurer, kauft ein Anwesen im Hallberger Hochland, verprellt die Bauern mit seinen Ansichten über „Blut und Boden“ und stellt gleichsam eine Privatarmee auf. Um weitere Gesinnungsgenossen in der Gegend anzusiedeln, versucht er mit üblen Methoden, das Bauerngut der Riemerischen in seinen Besitz zu bringen.

Auch in München, wo Jule Riemer arbeitet, finden sich immer mehr Völkische, sickern in die Polizei ein, breiten sich im Zeitungswesen aus und gründen den vaterländischen
- auch antisemitischen - „Thule-Bund“. Sie morden ohne Skrupel und bereiten langfristig die Machtübernahme vor.

Und mitten in diesen Wirren tut Inspektor Paul Kajetan - bekannt aus Hültners Debüt-Krimi Walching - seinen Dienst. Er läßt sich von keiner der politischen Strömungen vereinnahmen, fühlt sich einzig und allein der Gerechtigkeit verpflichtet und bewahrt - zumindest subjektiv - Neutralität. Daß sich dabei Täter aus der Oberschicht seinem Zugriff entziehen, während er unnachsichtig „arme Teufel“ verhaftet, wird ihm spät bewußt. Seine konservative Sicht auf die Dinge wird erstmals durch seine Freundin Irmi erschüttert, die sich in dem verzweifelten Versuch, sich zu emanzipieren, endgültig von ihm trennt.

Besonders berührt das Schicksal Jule Riemers; sie hat sich in den jungen Journalisten Eugen Meininger verliebt, der, noch zu Lebzeiten des Ministerpräsidenten, beauftragt wird, einen Artikel zu schreiben, in dem die längst widerlegte Verleumdung, Kurt Eisner heiße eigentlich Schmuel Koslowski und sei ein davongelaufener Bankrotteur, neue Nahrung erhalten soll. Nach dem Tod des Politikers kommt Meininger bei seinen Recherchen ziemlich mühelos der mörderischen Verschwörung auf die Spur und muß deshalb sterben.

Jule trauert um ihre große Liebe: „Ich bin mit ihm gegangen, da war kein Licht, kein Weg und kein Steg zu sehn, nur ein Schwarm Stern hat uns geleuchtet, und er war an meiner Seit, war mein Licht und meine Sonn, unds Gras hat einen Duft gehabt, und wie ich nackt glänz, sagt er, wie bist du schön, und ich brauch nicht herabschaun auf mich und sag bloß, daß es stimmt, und auf einmal fällt alles von ihm, was geheim ist beim anderen, und wir brechen ein in ein fremdes Land, mit einem Himmel und Wärm und Sonn Tag für Tag ...“

Der an stilistisch anspruchslose, nüchterne Kriminalliteratur gewöhnte Rezipient freut sich über solch kunstvolle, einfühlsame Sprache, über Sätze wie „Die Eltern tranken die Traurigkeit ihres Kindes wie bitteren Most“ und „Der Vater ... suchte durch Streit ihre Nähe“ und über die Kunst des Autors, Dialekt und Hochsprache überzeugend und verständlich miteinander zu verweben. Zum Schluß der Erzählung kulminiert die Spannung: Inspektor Kajetan hat die Täter ermittelt und auch die Hintergründe des Präsidentenmordes aufgedeckt; aber die Zeit ist nicht für Gerechtigkeit. So muß er froh sein, daß er nicht selbst zum Opfer wird, daß ihn andere - wenn auch die Falschen - aus tödlicher Gefahr befreien.

Jule und ihr Bruder Hans, der vor dem Krieg Eisenbahner gewesen ist, wollen grausame Rache an den Mördern Eugen Meiningers üben. Hans löst eine Lasche an den Schienen bei der Bahnstrecke, auf der der Zug mit Baron von Bottendorf und seinen völkischen Gefolgsleuten zur Niederschlagung der Räterepublik nach München rollt.

Und wie mitunter beim Krimilesen wird man zum Anarchisten, wartet gebannt auf die Vernichtung der Bösen beim Sturz des Zuges von der Brücke in die Schlucht. Aber da ist auch der junge Stangassinger, der stolz an diesem schlimmen Tag zum erstenmal die Lok fahren darf und dem die Frau extra eine dicke Brotzeitwurst zu seinem Amtsantritt als Lokomotivführer zum Bahnhof gebracht hat ... So ist der Ausgang der Aktion noch ungewiß und soll in einer Krimirezension auch nicht verraten werden.

Robert Hültner hat eine spannende Kriminalerzählung geschrieben, die immer dann literarisch überzeugt und emotional ergreift, wenn er schildert, wie die Politik in das Leben einfacher Menschen eingreift. Der Mord an dem bayrischen Ministerpräsidenten wird von der Einzeltat eines dubiosen Grafen zu einer reaktionären Verschwörung, die zahlreiche Opfer fordert, zu einem Menetekel für eine verhängnisvolle Entwicklung in Deutschland.

Wort- und Sacherklärungen und zwei zeitgenössische Fotos vom Ort des Geschehens zeugen von verlegerischer Sorgfalt.

Helmut Walther


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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