Rezension

 

Die pubertären Erlebnisse des Pfarrerssohns

Christoph Hein: Von allem Anfang an

Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 197 S.

 

Bücher von Christoph Hein waren zu DDR-Zeiten immer etwas Besonderes. Vielen galten sie als spektakulär, manchem erschienen sie geradezu rebellisch. Entsprachen sie doch so gar nicht dem Muster eines dogmatisch beschränkten sozialistischen Realismus. Ob in Der Fremde Freund (1982, in Westdeutschland als Drachenblut erschienen), in Horns Ende (1985) oder im Tangospieler (1989) - die zentralen Figuren waren alles andere als strahlende Helden. Sie scheiterten oder verkrusteten an einer Gesellschaft, die keine andere war als die „realsozialistische“ in den Farben der DDR. Auf dem X. Schriftstellerkongreß im November 1987 hatte Hein mit seiner Forderung nach Abschaffung der Zensur Furore gemacht und zwei Jahre später Schlagzeilen mit seinem Vorschlag von der Alexanderplatz-Kundgebung am 4. 11. 89, Leipzig wegen der Montagsdemonstrationen zur Heldenstadt zu ernennen. Als sich dann die Losungen der Demonstranten wundersamerweise im Kohlschen Sinne gewandelt hatten und es als Zensor bald nur noch den Markt gab, war es auch um Hein merklich stiller geworden. Sein Napoleonspiel (1993) fand auch bei Freunden nicht gerade begeisterte Aufnahme.

Nun also Von allem Anfang an. Es ist kein spektakuläres Buch. Kein dramatischer Wenderoman, keine zornige Abrechnung mit der DDR. Eher ein stilles Buch, ein nachdenkliches allemal. Eine Art Entwicklungsroman, wenn auch ein kurzer, was die geschilderten Jahre betrifft. Es wird zwar nicht „von Anfang an“ erzählt, aber im Mittelpunkt steht ein Ich-Erzähler zwischen 12 und 15, also in einem Lebensabschnitt, der offenbar sehr prägend ist, auch für später. Das Buch spielt in einer Zeit, die man noch zu den Gründerjahren der DDR rechnen kann: zwischen der ersten großen Niederlage des sozialistischen Versuches 1953 und den Verhärtungen nach den Ungarn-Ereignissen 1956.

Das Buch beginnt mit dem Abschied von Tante Magdalena, denn der Ich-Erzähler will „für immer nach Westberlin“ ziehen, um dort aufs Gymnasium zu gehen. Von Tante Magdalena „und meiner Familie habe ich schon immer erzählen wollen ... Wenn ich noch lange warte, stirbt noch der eine oder andere, der mir dies und das berichten oder berichtigen kann“, heißt es auf den ersten Seiten. Nein, ein autobiographisches Buch sei es nicht, meinte der Autor bei einer Lesung. Aber es trägt sicher autobiographische Züge. Auch Hein wuchs, wie der Ich-Erzähler des Buches, in einer sächsischen Kleinstadt auf. Auch er sollte als Pfarrerssohn in der DDR nicht auf die Oberschule kommen und ging deshalb auf ein Gymnasium in Westberlin. Allerdings kehrte Hein noch vor dem Mauerbau in die DDR zurück, war Montagearbeiter, Kellner, Buchhändler und Regieassistent, studierte schließlich Philosophie in Leipzig und Ostberlin.

Drei Elemente des Buches wecken wohl besonderes Interesse: Die pubertären Erlebnisse des Ich-Erzählers, sein Verhältnis zu Kirche und Christentum und schließlich die Darstellung des politischen Umfeldes. Was das erste betrifft: Der Kritiker einer namhaften Berliner Tageszeitung spricht in diesem Zusammenhang von „Kühle und Distanz“, von „seltsam abgeklärt“. Dem vermag ich nicht zu folgen. Das voyeuristische Abenteuer mit Pille, der Freundin des etwas älteren Freundes, am „Russensee“ (S.89 ff.) finde ich durchaus reizvoll, fast poetisch geschildert. Der „weiße, große, nackte Hintern“ der Geographielehrerin, die der Ich-Erzähler unvermittelt bei seinem großen Freund, dem Gaukler Kade, antrifft, (S.150 ff.), hat wohl nicht nur die Sinne, sondern auch die Seele des Knaben erschüttert. Und das Hin- und Hergerissensein, ob er dem Verführungsversuch des Mädchens Mareike folgen soll, hat geradezu etwas Rührendes.

Was nun Kirche und Christentum betrifft, so bleibt (absichtlich oder nicht?) das Verhältnis des Erzählers zum Pfarrer-Vater und dessen Einfluß auf den Knaben in der Schilderung ziemlich blaß und unterbelichtet. Es beschränkt sich auf Bemerkungen wie die, daß der Vater darauf bestand, zu Weihnachten ein Lied zu singen und einen Bibeltext zu hören, da „Weihnachten das Fest von Christi Geburt und das Schenken nicht die Hauptsache sei“. (S. 19) Oder: „Am Sonntagvormittag hatten wir in der Kirche zu sitzen, so wie wir die Woche über jeden Morgen in die Schule gehen mußten.“ (S. 169) Als eine Art Schlüsselerlebnis wird dagegen die Begegnung mit Kade, dem Hochseilartisten, geschildert, der meergrüne Augen hat und den Jungen an den Evangelisten Lukas auf dem großen Altarbild in der heimatlichen Marienkirche erinnert. „Und Lukas hatte mich besonders beeindruckt. Mir gefiel sein Evangelium besser als das der anderen, ich fand es einleuchtender und seine Worte waren einprägsamer.“ (S. 110)

Erst auf den letzten Seiten tritt der Pfarrer-Vater wieder in den Vordergrund: „Der Schlüssel für Westberlin aber lag, wie ich wußte, bei meinem Vater. Nur wenn er sich weiterhin mit dem Schuldirektor, dem Bürgermeister und den Funktionären der Partei herumstreiten würde ... wäre gesichert, daß mein Antrag auf Besuch der Oberschule abgelehnt werden würde.“ (S. 187) Womit wir drittens beim politischen Umfeld, beim Blick auf die DDR wären. Es ist kein zorniger, eher ein differenzierter, ehrlicher. Wir lesen, daß der Großvater, einst Verwalter eines Rittergutes in Schlesien, nun Inspektor (gemeint ist wohl: Direktor) eines volkseigenen Gutes, diesen Posten verliert, weil er sich weigert, in die SED einzutreten. Als der Knabe die Oma fragt, warum das geschieht und wer die Partei ist, erfährt er: „Das sind die Bestimmer. Wenn du Bestimmer bist, mußt du das nicht erklären. Du bestimmst einfach und fertig.“ (S. 81) Wir lesen aber auch, wie das schöne Mädchen Pille verkündet, sie wolle bald Kandidat der SED werden: „Wer was ändern will, muß da eintreten.“ Ein Satz, dem nicht widersprochen wird und der wohl auch seinerzeit der Meinung Christoph Heins entsprach. Wir erleben, wie die Klassenlehrerin nach dem Einmarsch sowjetischer Panzer in Budapest ein Gespräch mit den Schülern zu führen versucht. „Nur drei Mädchen meldeten sich und sagten, wie sehr sie die Konterrevolution in Ungarn verabscheuen ... Einige dachten so wie ich (verurteilten also im Stillen den Einmarsch. H.W.) aber alle übrigen interessierten sich nicht für Politik und waren nur froh, daß nicht nach den Hausaufgaben gefragt wurde.“ (S. 190) Und wir lernen Lucie kennen, die „sowohl eine gläubige und eifrige Katholikin, als auch ein begeisterter Thälmann-Pionier war“. (S. 191)

Von den Ungarn-Ereignissen hat der Erzähler bei einem Besuch in Westberlin von einer Leuchtschrift am Kurfürstendamm erfahren. Nach diesem Besuch ist er „fester denn je entschlossen“, die DDR zu verlassen. Was ihn hier „aufs äußerste verbitterte, war der sich stets gleichbleibende Ablauf des alltäglichen Geschehens, die vollkommene Ereignislosigkeit“. (S. 188) Doch er hat auch Angst vor dem Wechsel. „In unserer Oberschule wäre alles vertrauter für mich ... Alles, was ich bisher gelernt hatte, wäre weiterhin gültig und richtig und wichtig ... Doch die nun fast greifbar nahe Veränderung meines Lebens schüchterte mich ein.“ (S. 188) In solchen Sätzen darf man vielleicht eine Metapher dafür sehen, was viele DDR-Bürger vor und nach ihrem „Ankommen“ in der gesamtdeutschen Bundesrepublik durchgemacht haben. Ein Grund mehr, Heins Buch als ein nachdenkliches und zum Nach-Denken anregendes zu empfinden.

Horst Wagner


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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