Rezension

 

Als Publizist im Kloster

Wolfgang Hegewald: Ein obskures Nest
Roman.

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1997, 176 S.

 

Seit Umberto Ecos Der Name der Rose ist der Klosterroman wieder im Schwange, und auch der Verlag wirbt auf dem Schutzumschlag in dieser Richtung. Allerdings handelt es sich bei Hegewalds Buch nicht um eine „kriminalistisch verrätselte Historienmalerei in Prosa aus dem Geist des semiotischen Schabernacks“, sondern durchaus um einen Gegenwartsroman.

Der „Novize“ ist Peter Müller, 38 Jahre alt, der sich auf eine Zeitungsanzeige hin, in der eine Dreizimmerwohnung im Kloster Loccum angeboten wird, für mehrere Jahre in einer historischen Fachwerkkate dortselbst einmietet. Nun ist das (evangelische) Kloster Loccum, zugleich Sitz eines Predigerseminars, nicht nur für kirchliche Kreise und diverse Fraktionstagungen eine anregende Stätte; auch Peter Müller - der den Klosternamen Luciano Senkrecht erhält - erhofft sich hier Ruhe und Konzentration, nämlich für literarische Arbeiten.

Müller stammt aus Weixdorf bei Dresden und hat Anfang der achtziger Jahre die DDR per Ausreiseantrag verlassen. Er nennt sich Publizist, ganz im Sinne der lexikalischen Erklärung: einer, der sich mit allen die Öffentlichkeit interessierenden Angelegenheiten in Buch, Presse usw. beschäftigt. Aber was schon interessiert die bundesdeutsche Öffentlichkeit im Sommer 1989? Müller redigiert Festschriften, verfaßt Texte für Werbematerialien und formuliert Heiratsannoncen, letzteres mit unterschiedlichem Ergebnis und mitunter fatalen Folgen. Eigentlich jedoch träumt er von schriftstellerischem Erfolg: „Uns Oststaatlern ist einerseits ein ebenso starker wie rätselhafter Drang zum Schreiben eingeboren, zum anderen aber wurde über uns penibel Buch geführt.“

Die Loccumer Gegenwart liegt scheinbar weitab von jener Zeit, als Müller Ziel staatssicherheitlicher Berichte und Maßnahmen in der DDR war, und hier im Kloster sollen die psychischen Verletzungen heilen. Doch bald wird der Vorhang vor der Vergangenheit weggezogen. Es kommt der 9. November 1989, und Schabowski öffnet die Mauer. „So free und frech hatte das alte Mundstück des Neuen Deutschland noch nie geklungen.“

Auch Loccum bleibt von den Ereignissen nicht unberührt. Bald treffen die ersten Besucher aus dem Osten ein, bei Peter Müller respektive Luc Senkrecht zunächst zwei alte Pilzsammler aus dem Grenzgebiet der DDR, die miteinander gewettet haben, ob der Violette Rötelritterling das Grenzregime samt Todesstreifen, der sich als ein Kahlschlag durch die Mischwälder zieht, in all den Jahren überlebt hat. Der Publizist möge bitte in seiner Mitschreibzentrale einen Bericht über diese Wette erstellen.

Nach dieser „Buffo-Einlage“ jedoch kommt es für Luc Senkrecht zu berührenden Begegnungen mit Personen aus der Zeit, in der er noch Peter Müller hieß. Alte Freunde und Bekannte - wie er unangepaßt und deshalb Widrigkeiten ausgesetzt in der DDR - besuchen ihn und lassen die alten Zeiten aufleben. Erinnerungen an die Junge Gemeinde, an eine von den staatlichen Stellen nicht genehmigte kirchliche Rüstzeit werden wach, an die Arbeit im Leipziger Diakonissenkrankenhaus, wo Peter Müller, als er den Ausreiseantrag stellte, Handlangerdienste und Reparaturarbeiten unter den gestrengen Blicken eines anscheinend für die Stasi tätigen Kollegen ausführte.

Zu einem gestalterischen Höhepunkt wird der Besuch seiner ehemaligen Partnerin Kathrin, die - wie sich herausstellte - der Staatssicherheit über ihn berichtete. Nun versucht sie ihn mit Zärtlichkeit und Körperkontakt wieder für sich zu gewinnen - sie nimmt eine „geschlechtliche Handlung“ vor, wie es im Stasiberichtsjargon heißen mochte. Und während sie das tut, liest ihr Luc Senkrecht aus alten Klosterakten vom Fall der im 17. Jahrhundert als Hexe angeklagten Gese Köllars vor. Ein perfides Denunziationsschreiben einiger Dorfbewohner lieferte die junge Frau der kirchlichen Gerichtsbarkeit aus. Obwohl sie die Verdächtigungen tapfer zurückwies und sogar die Kirchenjuristen der alten Universität Rinteln sie nicht schuldig sprachen, gaben die Denunzianten nicht nach und erreichten schließlich, daß sie am 2. Juni 1660 in Loccum hingerichtet wurde. Der Tod der Gese Köllars ist nun gleichsam ein Symbol für das Sterben der Liebe zu Kathrin, die ihren Partner an die Stasi verriet.

Auch in anderen Kapiteln seines Buches gelingt Hegewald diese gegenseitige Durchdringung von Gegenwart und Vergangenheit. Eine verwirrte „Greisin mit einem Jungmädchengesicht, dem die Zeitbeize nichts anhaben konnte“, sucht in den Klostergängen Zuflucht vor Luftangriffen und berichtet von den sieben Loccumer Frauen, die bei einem Fliegerangriff ums Leben kamen, im Zweiten Weltkrieg, in dem ihr Mann gefallen ist.

Mehrmals scheint sich die Handlung kriminalistisch zu entwickeln. Eine tote junge Frau wird gefunden. Ein Bankraub findet statt. Aber diese Handlungsstränge werden nicht weiterverfolgt; Hauptthema bleiben die deutsch-deutschen Begegnungen nach der Grenzöffnung, wobei Luc Senkrecht Ende 1989 auch wieder die Grenze in Richtung DDR passieren darf.

Zusammen mit seiner neuen Freundin, der Vikarin Franza, fährt er nach Leipzig. Unterwegs haben die beiden (schon auf DDR-Gebiet) einen Verkehrsunfall und werden in ein Hallenser Krankenhaus eingeliefert. Diese Episode gerät zur bösen Satire auf die Verkehrspolizei und das Gesundheitswesen der untergehenden DDR, wie überhaupt die einstigen traumatischen Erlebnisse in der DDR, die Bespitzelungen, die Zuführungen, die Schikanen gegenüber „rechtswidrig (die Ausreise) Ersuchenden“ des öfteren die Distanz des Erzählers aufheben.

Hegewald hat das Buch 1994-1996 geschrieben, in einer Zeit also, in der die Euphorie der Wiedervereinigung längst Erkenntnissen gewichen ist, wie groß die Kluft zwischen den beiden deutschen Staaten war, wie festgefügt die vielzitierte „Mauer in den Köpfen“ ist. Bitter läßt er seinen Protagonisten fragen: „Wie lange wird es dauern ..., bis unsere Sätze den Dialekt der Sklaverei abgestreift haben? Bis wir Oststaatler nicht länger von dem Wunsch träumen, einst Sklavenhalter zu werden? Bis wir, Freigelassene, aus dem Pferch unseres kranken Denkens ausbrechen und das feige Raunen von den Fleischtöpfen der Vergangenheit ein Ende hat? Bis uns ein Freier nicht mehr als ein bemitleidenswerter
Idiot erscheint?“

Aus der Haltung des kritischen Betrachters heraus mischt sich für den Autor Tragisches mit Komischem, wenn z. B. ein Leipziger Religionswissenschaftler und Völkerkundler fast zehn Jahre auf die Erlaubnis zu einer Reise nach Brasilien warten mußte, wo er „die Rituale eines versprengten Indiostammes studieren wollte“, dessen Sprache er aus Büchern gelernt hatte. Als er endlich dort ankam, sprach kein Stammesmitglied mehr die Muttersprache, und er sah sich gezwungen, den Indios dieselbe wieder beizubringen.

Am Schluß der Handlung kehrt Luc Senkrecht zusammen mit Franza nach Loccum zurück. Und er ist mental in der Lage, seine schriftstellerischen Pläne zu verwirklichen. Die Erlebnisse drängen ihn dazu, und der obskure Ort eines altehrwürdigen Klosters bietet die geeignete Atmosphäre. Aber Loccum ist wohl nicht allein Metapher des Obskuren; dunkel, fragwürdig und verdächtig sind so manche Entwicklungen nach den glorreichen Jahren 1989/90. „Ein Zeitalter der verspielten Möglichkeiten hat begonnen ..., und sein Held ist der Spekulant, den die Spekulation mehr interessiert als die Bilanz. Wer jammert, hat nichts zu gewinnen außer seinem Osttrotz.“ Ein obskures Nest, unterhaltsam und nicht ohne Humor geschrieben, episodenreich und doch straff geführt, in lebendiger Sprache dargeboten, mitunter geheimnisvoll verschlüsselt - ein kritischer Roman der Wendeliteratur. „Alle Figuren in diesem Buch sind Erfindungen des Erzählers und nicht weniger wirklich als das Kloster Loccum. Ein Roman ist kein Steckbriefkasten“, sagt der Autor auf der letzten Seite des Textes. Dem ist wohl nichts hinzuzufügen.

Helmut Fickelscherer


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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