Rezension

 

Russische Empfindsamkeit, französischer Charme

Nella Bielski: Orangen für den Sohn von Alexander Levi
Roman.

Aus dem Französischen von Claudia Denzler.
Ullstein Verlag (Ullstein-Buch 24114), Berlin 1997, 105 S.

 

Eine junge Frau, Mitte Dreißig, mit dem poetischen Namen Liola, sitzt am Bett ihrer krebskranken Mutter, die nur noch kurze Zeit zu leben hat. Liola ist aus Frankreich zu Besuch gekommen, wohnt für zehn Tage in Moskau und fährt nun täglich ins Zelenograder Krankenhaus, in das die Mutter eingeliefert wurde. Es gilt Abschied zu nehmen, von der Mutter, die sterben wird, aber auch von Paul, dem Liola vor einem Dutzend Jahren als seine Frau nach Frankreich folgte und der nun bei einer anderen lebt. Die Zeit am Bett der Todkranken wird zu einer Zeit des Erinnerns.

Da ist die Kindheit im Krieg und unmittelbar danach; der Vater kommt als Versehrter nach Hause zurück, auf seinen Schultern erlebt Liola die Moskauer Siegesparade mit dem Defilee der gefangenen deutschen Soldaten. „Sie waren überhaupt nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie waren mit Schlamm bedeckt, in Lumpen gehüllt. Ich verspürte große Verlegenheit. Mein Vater sagte nichts. Die Menge blieb wie gelähmt, und in der Stadt, die schwieg, drückte das dumpfe Schlurfen Tausender nackter oder umwickelter Füße das Herz zusammen.“

Immer wieder aber kehren Liolas Gedanken zu Paul zurück, zu ihrer großen Liebe. Als zwanzigjährige Philosophiestudentin lernt sie ihn in Moskau kennen, als er mit einer Delegation französischer Journalisten die Sowjetunion besucht. Es ist auch politisch eine aufregende Zeit, eine Zeit des Aufbruchs: Chruschtschow betreibt die Entstalinisierung, an der Moskauer Philosophischen Fakultät studieren nun zahlreiche ehemalige Polizisten, Lageraufseher und Leute aus dem Sicherheitsapparat, wie der neue Generalsekretär „in seinem reformerischen Elan“ entschieden hat. Und mittendrin die standhafte Liola, die von Vater und Mutter zur Wahrhaftigkeit erzogen wurde und die ihre Meinung frei äußert.

Zum Eklat kommt es, als sie in einer Komsomolversammlung als einzige den Kommilitonen Alexander Levi verteidigt, der in seinem Hang zur Mythomanie sich eine Familie erfunden hat, um seinen Alltag eines Einsamen und Ungeliebten etwas freundlicher zu gestalten. Die unsensiblen Mitstudenten beschimpfen Levi als Lügner und Betrüger und bezeichnen Liola, die für ihn Verständnis aufbringt, als „abstrakte Humanistin“ - wahrlich ein Schimpfwort. Und als die so Gebrandmarkte nun auch noch einen Franzosen heiraten will, hat das massive Einflußnahmen und tägliche Verhöre zur Folge.

Liola bleibt standhaft und kann drei Jahre später nach Frankreich übersiedeln, sicher auch dank der „Tauwetterperiode“, die allerdings nicht lange anhält.

Wenn einige Leser nun erwarten, eine ostentative Abrechnung mit dem Sowjetsystem zu finden, werden sie enttäuscht. Hingegen gibt es Episoden und Passagen, die mehr über den real existierenden, alltäglichen Kommunismus aussagen als eifernde Widerspruchsbekundungen.

Die zukünftige Philosophielehrerin Liola wird beispielsweise in einen Kolchos geschickt, damit sie den Bauern von der neuesten Landwirtschaftspolitik berichte. „Man war mitten in der Periode des großen Maisanbaus, mitten in der Chruschtschow-Ära, die Partei verhieß uns, wir würden die amerikanische Milch- und Fleischproduktion überbieten.“ Als sie jedoch ihre fast nur weiblichen Zuhörer betrachtet, die unter ärmlichsten Verhältnissen schwere Arbeit leisten, bringt sie kein einziges Wort „über die glänzende Zukunft voller Milch und Fleisch“ heraus, statt dessen redet sie mit den Bäuerinnen über deren Probleme. Danach wird sie von einer von ihnen eingeladen, bei ihr zu Abend zu essen und zu übernachten. „Sie gab mir zu essen, ,was Gott uns schickt‘, wie man in Rußland sagt. An diesem Abend, mehr als fünfzig Jahre nach der großen Oktoberrevolution, schickte er uns vier in Wasser gekochte Kartoffeln, einen marinierten Kohl, eine dünne Scheibe Speck.“

Sätze wie „Es ist schwer in unserem Sowjetland, eine Frau zu sein, schwerer noch als ... in Frankreich“ oder „In diesem Land ist man schneller verbraucht“ finden sich ganz wie nebenbei.

Gegen diese Widrigkeiten setzen die Sowjetbürger ihr „Wunder des Überlebens“. Der überlastete Arzt in der schlechtausgerüsteten Krebsstation hat seine Menschlichkeit nicht verloren. - Liolas einfallsreiche Tante Tanja versorgt die Familie mit Mangelwaren und gewinnt Fiebermittel aus Weidenrinde. - Der inhaftierte Schriftsteller Wolodja Bukowski erfindet für sich ein Schloß, in dem er während eines Umerziehungsgesprächs beim KGB fiktiv einen festlichen Empfang gibt ... Das von Chruschtschow enthüllte Ausmaß der Stalinschen Greuel wird zum Trauma der sowjetischen Gesellschaft. Fast jeder kennt Verfolgte und Opfer, identifiziert sich mit ihnen. „Wir, die Russen, wir alle kommen aus Magadan.“ Die sibirische Stadt Magadan mit ihren Lagern wird zum Symbol für die Verfolgungen, aber auch für den inneren Widerstand gegen ein Terrorregime.

Die seelischen Verletzungen durch das Unfaßbare sensibilisieren Liola für existentielle Betrachtungen über Leben und Tod. Aber sie wird der Mutter in deren Todesstunde nicht die Hand halten können, sie muß nach Frankreich zurückkehren. Dort erwartet sie wieder das ereignisreiche Leben mit ebenfalls in Frankreich lebenden russischen, aber auch mit französischen Freunden. Das sind überwiegend Freunde und Bekannte aus Künstlerkreisen. Es wird jedoch ein Leben ohne Paul sein. „Wir waren eine Einheit aus zwei echten Einsamkeiten, die miteinander existierten.“ Diese Einheit ist zerbrochen. Bleibt die gemeinsame elfjährige Tochter, ein sensibles Mädchen mit Verstand und Talenten. Und die Schriftstellerei: „... ich glaube mehr und mehr an die Wohltätigkeit der Romane, im Kopf oder auf dem Papier.“

In einer kurzen Nachbemerkung der Übersetzerin über die Autorin heißt es zu dem vorliegenden Buch, es markiere „eine Rückkehr zu einer rein romanesken Imagination“ des eigenen Lebens von Nella Bielski, die nicht nur in Frankreich als Schriftstellerin bekannt wurde. Die französische Originalausgabe von Orangen für den Sohn von Alexander Levi ist bereits 1979 erschienen, dennoch wirkt der Text auch heutzutage erstaunlich frisch und modern, und es ist zu begrüßen, daß das Buch nun ebenfalls in Deutsch vorliegt.

Louis Aragon hat der Autorin zu diesem Roman, in dem Dichtung und Wahrheit, Abschied und Erinnern, Todesgedanken und Lebenskraft, Liebe und Verlassenheit, russischer Gedankenreichtum und französischer Esprit so kunstvoll und anrührend verwoben sind, in einem Brief geschrieben: „Danke, Nella! Danke für dieses Buch, ich habe es einfach geliebt.“

Helmut Fickelscherer


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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