Rezension

 

Dichter und Literaturdetektive

„Welches Verfallsdatum haben wir heute?“
Ein Porträt des Dichters Peter Salomon als Fünfzigjähriger.

Herausgegeben von Manfred Bosch.
Edition Isele, Replik/Sonderheft, Eggingen 1997, 44 S.

Apostel einer besseren Menschlichkeit
Der Expressionist Rudolf Hartig (1893-1962).

Ein fragmentarisches Porträt von Wulf Kirsten.
Edition Isele, Replik/Heft 7, Eggingen 1997, 39 S.

 

Hier ist von zwei Entdeckungen zu berichten. Eigentlich sogar drei (wenn man den Verlag - die Edition Klaus Isele in Eggingen - mit hinzunimmt). Zuerst fiel mein Blick auf ein Foto, das, leicht angeschrägt, auf dem Einband eines Heftes (gediegen französische Broschur) einen Mann in vorgerückt mittleren Jahren zeigt. Ein in die Sonne lächelndes Gesicht vor einer mittelalterlichen Skulptur. Während der Stein-Mensch ein Kreuz mit dem Gekreuzigten schräg hält, fällt der davorstehende Mann durch konzentrierte Lässigkeit auf. Linke Hand in der Hosentasche, während die rechte für einen Moment die Brille des Kurzsichtigen hält. Es ist der Rechtsanwalt, Dichter und Literaturdetektiv Peter Salomon. Literaturdetektiv? Ein gelungenes Kompositum, das Beruf und Berufung eines Mannes vorstellt, der alles, was er erlebt oder betreibt, mit gehörigem Ernst versieht. Begonnen hat der jetzt Fünfzigjährige, ein geborener Berliner, der am Bodensee, in Konstanz lebt, mit alternativer Literatur nach 1968, die ihre Wurzeln in der Rockmusik und in der Studentenbewegung hatte. Peter Salomon schildert die Zeit so: Hier „fand ein geistiger Aufbruch der Jugend statt - quer zum bürgerlichen Establishment ... das war ein Forum, das verband, auch wenn man örtlich entfernt lebte ... Ein Boom von Kleinzeitschriften, Flugblättern, eine besondere, aus den neuen Drucktechniken resultierende Darstellungsweise (billig und chaotisch), eine aufgeheizte Kommunikation zwischen Autoren, Projektemachern und Verlegern - verhießen eine bessere Zukunft: Ohne Klassenunterschiede, ohne Krieg, mit sex and drugs and rock ‘n‘ roll.“ Die Lyrik von Peter Salomon, die in diesem Heft auswahlweise vorgestellt wird, zieht diese Spur nach: Was wurde aus den einstigen Blütenträumen, wie lebt der Mensch weiter, wenn ein Großteil der Hoffnung und des Lebens verflossen ist. Hier waltet vornehmlich und anhaltend detektivischer Sinn, mißtraut wird der Welt und ihren großen wie kleinen Verwerfungen und unangekündigten Umbrüchen. Vertraut wird dem Wort, das dies alles bannt und pointiert im Vers festhält. Doch der Literaturdetektiv hat noch eine ganz andere Seite vorzuweisen. Als Herausgeber der Reihe „Replik“ dringt er in Bereiche der Moderne vor, die zumeist vergessen, zumindest aber sträflich vernachlässigt worden sind. So machte er die Entdeckung, daß es zwischen 1910 und 1920 expressionistische Dichter gab, die heute niemand mehr kennt. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre begann er „in der Art eines Detektivs den Expressionismus in seinen Konstanzer Berührungspunkten zu erforschen und damit auch einen Teil meiner eigenen Erfahrungen wiederzuerkennen.“ Im Gedicht „In Meersburg“ hat Peter Salomon seine literarische Spurensuche kunstvoll verwoben. Dort trifft er auf den expressionistischen Dichter Rudolf Adrian Dietrich (dem er ein Heft in der Reihe „Replik“ gewidmet hat), auf Wegen um Konstanz am Bodensee, wo Dietrich einst die Bürger mit ungewohnter Frei- und Offenheit schreckte. Heute irritiert der tägliche Strom der an- und abfahrenden Touristen den Dichter Salomon: „Wenn die Fähren anlegen und man geht mit / Von Bord, überfluten die Massen die Altstadt. / Bequem im Jogginganzug und nervös auf Eiscrem ...“

Längst ist die wilde Erregtheit der späten 68er Dichter zur Ruhe gekommen. Die Notizen des Wort- und Gedankendetektivs sammeln auf, was im Rascheln des Alltags liegengeblieben ist: „Alte Putzlappen. Das Gefühl von Sonderbewußtsein; / Nicht mehr gespeist vom Kollektiven. / Abstrakt die Besiedlung und ich, der Gast / Im Singsang der Wörter, der Binnenreime ...“

So gut es geht, sucht Peter Salomon nach Verbündeten, freilich mit der Einsicht, sie werden immer seltener. Im Gedicht „Hans Davidsohn in Sayn“ von 1991 erinnert er an den expressionistischen Dichter Jakob van Hoddis, dem „Das Weltende der Demokraten aus dem Kopf“ zuckte, der zum detektivischen Bruder wird, mit Namen spielerisch umgeht. Noch einmal leuchtet expressionistisches Feuer auf: „Benn wird Laufbursche! Heym Kutscher! Man darf / Kein Bohemien sein! und muß gesellschaftlich / Gentles auftreten! Hans von Hoddissohn / Jabaks von Hisdod, Ja van Hoddiskop, sie alle / Betätigen sich nur noch als Privatdetektiv ...“ In fast jedem Gedicht agiert und tönt detektivischer Spürsinn, wird auch Kindheit im Nachkriegs-Berlin erinnert. Ein Satz, der den Eltern Glanz in die Augen bringt: „Die Kälte der Nachkriegswinter“, für Salomon ein Anlaß, über den Glanz alter Kostüme nachzusinnen, mit einem Wort wie: „Trockenmilchpulver“ erscheint das Chaos, das Leben war. Vieles ist seitdem ruhiger geworden, auch bequemer, doch nicht geringer die Wirrnisse, die lapidar benannt werden: „Die Ausdauer der Nachgeborenen / mit den Hinterbliebenen.“

Seinen Anspruch hat dieser Dichter einmal so formuliert: „Lyrische Texte sind auf Störung und Erneuerung von Erfahrungs- und Lesegewohnheiten ausgerichtet.“ Ganz spielerisch geschieht dies im Gedicht „Kleine Pannenhilfe für Schöngeister“, worin Salomon Alltagsbanalitäten minutiös von Zeile zu Zeile führt, um dann in der Schlußzeile dem Leser lachend-ätzend zuzurufen: „Du liest ja Gedichte!“ Fast immer wird eine Frage im Gedicht zur provokanten Herausforderung für den Leser. In seinen „Handgreiflichsten Kindheitserinnerungen“ (1974) ist es die mit der Gewißheit erlebter Erfahrung gestellte Frage: „Wer nie Ruinen / zertrümmern konnte, / was muß dem fehlen? / Wieviele Tassen, wieviel / Phantasie, Nachsicht / schulden wir dem?“ Inmitten allseitiger Langeweile, Gleichmut registriert pausenlos Unvereinbarkeiten, leuchtet wie eine Inschrift, die fortan jeden Tag ihre Gültigkeit haben könnte, die Frage: „Welches Verfallsdatum haben wir heute?“

Hinter jedem Fragezeichen, Peter Salomon weiß es aus Erfahrung, lauert ein Abgrund, verbirgt sich ein Verhängnis, das bei jedem Leser immer wieder anders bestätigt werden kann. Deshalb ist es so wohltuend, daß dieser Dichter nur Fragen stellt, keine aber beantwortet.

 

Ein ganz anderer Detektiv ist der in Weimar lebende Lyriker, Essayist, Lektor und Herausgeber Wulf Kirsten. Seine Karteikästen galten schon in der DDR allen Interessierten als eine präzis-verläßliche Quelle. Mit Eifer, Lust und Akribie sammelte er alles, was andere übersehen oder vergessen hatten. In der Reihe „Replik“, Heft 7, stellt er den Expressionisten Rudolf Hartig (1893-1962) vor. Ein total Vergessener, der zu Lebzeiten nie ein Buch veröffentlichen konnte, trotz unzähliger Versuche, über die der Herausgeber ausführlich Auskunft gibt. Die abgedruckten Gedichte zeigen den Rufer Hartig, der über die Gräben des Ersten Weltkrieges seine Stimme erhebt. Sie klingt dramatisch, gilt es doch, das Menschsein wiederzuerlangen: „Wollen wir nicht aufeinander zugehn und wieder uns Brüder heißen? / Da wir doch Menschen sind, leidend, zerquält und einstmals ein Gleiches erträumten in Kindheit und Liebe? / Wollen wir nicht die tiefdunklen Unterstände aufreißen, die wir aus Furcht voreinander gebaut?“

Rudolf Hartig, der Räterepublik in Franken angehörend, wurde zu einer zweijährigen Festungshaft verurteilt. Sein dort entstandenes Gedicht „Schweigende Schwermut“ endet mit den resignierenden Zeilen: „Es müssen Blätter fallen im Dunkel der Wälder - / Aber in Zellen verschlossen verrinnt unser Dasein.“

Die Spur des Dichters Hartig verrinnt früh im Strudel der Zeitgeschichte. Mit dem Ende des Expressionismus scheint sein dichterischer Impuls zu versiegen. Interessant ist hier aber der weitere Verlauf seines Lebens. Während des Ersten Weltkrieges zum Lehrer ausgebildet, war er bei Kriegsende Leutnant einer Maschinengewehr-Kompanie. Deutlich hat er seine Antikriegshaltung bekannt, während dieser Zeit auch die meisten Gedichte seines schmalen Werkes geschrieben. Aktiv beteiligt er sich an der Novemberrevolution, lernt während der Festungshaft den Dichter Ernst Toller kennen. Henri Barbusse erfährt vom Schicksal Hartigs, wirbt mit einem kurzen Text für Hartigs Gedichte. Umsonst. Indessen driftet Rudolf Hartig immer mehr in die Politik ab. Wechselt noch während der Haft 1920 von der USPD zur KPD, wird Leiter einer Berufsschule in Leipzig, ist Vorsitzender des Verbandes Proletarischer Freidenker und Kreistagsabgeordneter. 1933 verhaftet und ins Konzentrationslager nach Colditz bei Leipzig gebracht, beginnt er danach - noch während des Zweiten Weltkrieges - ein Musikstudium in Leipzig, daneben Gelegenheitsarbeiten bis zum Ende des Krieges. Danach wird er Gewerbeschulrat, leitet das Amt für Kunst und Literatur in Leipzig, seit 1951 in Berlin. Er wird zu einer Hintergrundfigur im Staatsapparat, organisiert als Freidenker die Jugendweihefeiern in der DDR. Seine literarischen „Jugendsünden“ hat er vermutlich, dazu noch in den Zeiten des dogmatisch eingeengten Kunstbegriffs vergessen. Rudolf Hartig stirbt 1962 in Berlin. Wulf Kirsten hat ausgiebig über „einen ewigen Pechvogel“ recherchiert. Er resümiert am Schluß seines Beitrages: „Mag die Auswahl von fünfzehn Gedichten als bescheidenes Entreebillett mit horrender Verspätung gesehen werden, die säkulare Bedeutung der Stilrichtung, der Rudolf Hartig immerhin einige Jahre gefolgt ist als einer, der mitmarschiert ist, prädestiniert ihn, in diese verdienstvolle Reihe aufgenommen zu werden.“

Friedrich Schimmel


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite