Rezensionen

 

Bewegung und Beruhigung

John Barton Epstein:
VEGA. Poem

Englische und deutsche Übersetzung von Andreas Koziel.
Gerhard Wolf Janus press, Berlin 1996, 224 S.

 

Das ist ein Buch der Bewegung. Ist ein Buch der Beruhigung. Ist ein Buch der bewegten Beruhigung, wie der beruhigten Bewegung. Ist das rigoros auf den Seiten 121 und 122: den weißen, leeren Seiten. Ansonsten ist VEGA, das 221seitige, sechsteilige Gedicht des John Barton Epstein, durchweg fürs rege leise Lesen geeignet.

Stiller Betrachtung empfehlen sich sechs Gouachen von Penck und die gelb-schwarzen illustrativen Text-Illuminationen von Helge Leiberg, die jede Seite begleiten. Literatur und Kunst, Ausstattung und Ausführung des Buches haben alles, was demnächst nicht irgendeine Jury dazu bringen wird, den Band in die Reihe der „Schönsten Bücher“ des Jahres zu stellen. Das wär's dann? Dann darf das Buch einstauben? Das kann's nicht gewesen sein!

„Gott wir stecken / In der Klemme“, heißt es bei Epstein. Heißt es in seinem Gedicht, dem mit Vokabeln wie Epos und Groß-Gedicht ein Keulenschlag versetzt werden kann, von dem es sich nicht mehr erholt. Um mit VEGA eins und einig zu werden, wäre es ratsam, das Gedicht als eine Serie von Gedichten im Gedicht zu lesen. „Seine Ordnung war immer: Nicht die Substanz / Doch die Fügung der Teile“, läßt uns der Verfasser von VEGA wissen und gibt den Lesern so eine Handhabe.

Vom weiblichen Hölderlin der deutschen Lyrik, von Else Lasker-Schüler, ist auch bekannt geworden, daß sie schnell zu schreiben begann, sobald Theodor Däubler aus seinem Endlos-Epos Nordlicht vorlas.

Wen ermüdet Epstein? Gewiß nicht Uwe Kolbe, der den Amerikaner in Berlin im Vorwort einen Freund und „Mann mit Geschmack“ nennt. Ja, ja, der Geschmack! Ja, ja, die Ästhetik. Sie sind für den Freundlichen und seinen vielfach rhythmisch variierten Vers wesentlich wie der Inhalt. Lyrik, die auf sich hält, wissen wir, strengt an. Lyrik, die wirklich was wert ist, ist eine Anstrengung. Zumal Lyrik, die sich ganz unter den musischen Stern der Lyra stellt, wie die des John Epstein. Womit auch ein Hinweis zur Deutung des gewählten Titels gegeben ist. „... jeder liebt einen Stern ...“, sagt der Dichter, der unterm Sternzeichen der Lyra dem Stern VEGA folgt. Dessen Bahn seine Bahn ist. Vielleicht. Der Stern ist, was und wo das Herz ist. Vielleicht. Er zieht die Spur einer „einstmals gewaltigen Sehnsucht“. Vielleicht. Immer wieder: Vielleicht, vielleicht, vielleicht! Weil nichts eindeutig, nichts entschieden ist? Weil nichts Eindeutig-Entscheidenes zu sagen ist? Von John Epstein? Der Dichter ist ein Entschiedener, ist ein Eindeutiger. Er ist ein philosophischer Poet. Er postuliert Bewegung und Beruhigung, die er zwischen Erde und Himmel wahrnimmt. In seinem Raumschiff VEGA versammelt Epstein, ähnlich einer Arche, irdische und himmlische Güter des Geistes. Er sammelt mit der Akku-ratesse des Wissenschaftlers. Er sortiert mit der Gewissenhaftigkeit eines Technikers. Streng gläubig in seiner poetischen Profession, zelebriert Epstein die „Fügung der Teile“, die die Substanz ausmachen. Alles ist untergebracht unterm Dach der Imagination. Ohne Imagina-tion ist für John Epstein keine Poesie.

Was er an Welt-An-Schauung aufbietet, muß er, und muß er auch nicht, durch den Filter der Imagination schicken. So wird Philosophie poetisch, Poesie philosophisch. Welt-An-Schauung korrespondiert mit lyrischer Welt-Schau. Mancher Gedanke taucht in assoziativen Bildern auf, die nach der Kennzeichnung mit dem Bleistift verlangen. Mancher Gedanke ist gefangen in „Silberketten“. übertönt von „Silberglocken“, verdeckt von „Silberwolken“. Es silbert stark. Selbst, wenn von Gold gesprochen wird. Eine Flut der Farben flirrt am weiten Firmament von VEGA.

Epstein ist am eindrucksvollsten, wenn die Farben nicht ineinanderfließen. Wenn er seiner poetisierten Philosophie strikt die Strenge eines lyrischen Essays erhält.

So erzählerisch das Gedicht auch in vielen Teilen ist, in den besten Momenten ist es lyrischer Essay. Aphorismus und Allegorie bekommen eine Eigenständigkeit, die unabhängig vom Ganzen existiert und doch nicht ohne das ist.

Über das ordnende, geordnete Gedicht VEGA kann der Leser selbst ordnend verfügen. Also, im Sinne des Autors, „auskommen ohne das zentrale Thema“. Also sich dem „zwanghaften Austausch von Ablauf durch Ablauf“ entziehen, sich „selbst unter schwersten Bemühungen erschaffen“. In der Begegnung und Beziehung mit dem Epsteinschen Gedicht der Gedichte. Das heißt in der bewegten, bewegenden Erinnerung der beruhigten, beruhigenden Zeit gehabten Lebens, das auch immer verlorene Zeit und verlorenes Leben ist. Vom Verlieren und von Verlusten zu sprechen bedeutet für den Dichter, sich gegen das Verlieren und die Verluste zu schützen.

Das Gedicht ist ein riesiger Gobelin, in dem irdische Geschichten vom Verlieren und Verlust eingewoben sind.

Epstein begreift das Werden als ein ständiges Wiederkehren gewonnener Verluste und verlorener Gewinne. Gleich dem Wechsel der Gezeiten unterm ewigen Gestirn. Wo dem Gegebenen genommen wird, wo dem Genommenen gegeben wird. Wo das „Kontinuum: Schub und Woge“ ist. Darauf festgelegt, schwingt beim Dichter fortwährend die Frage mit: „Was / Bleibt übrig?“

Nicht mehr als ein Buch? Was wäre mehr? Mehr als das Buch VEGA, das irgendwer ein Gesamt-Kunst-Werk nennen wird. Ist es! Und könnte auch als bildhaft-malerisch-graphisch-typographischer Klang-Körper bezeichnet werden. Ein Buch, das wer, wann, wo lesen wird? Und wie dann? Am besten laut. Wie aber laut leise lesen? Es bedarf erfahrener Leser. Sie müssen so gut, sprich geduldig, sein wie der Dichter John Barton Epstein. Wie der Nachdichter Andreas Koziol. Sie brauchten Jahre, um das zweisprachig gedruckte Buch zu ermöglichen. Um den Vergleich noch einmal zu wagen: VEGA ist ein Gobelin, bei dem es darauf ankommt, wo und wie jeder Faden ins Ganze gewebt wurde. Bewegend für Beruhigte! Beruhigend für Bewegte.

Bernd Heimberger


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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