Rezension

 

Verwickelt und verflochten

Marcel Beyer:
Falsches Futter

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997, 83 S.

 

„Du mußt dein Leben ändern.“ Ungestraft durfte nur Rainer Maria Rilke ein Gedicht derart deklamatorisch, diktierend beenden. Und das auch nur - noch - zur Rilke-Zeit.

Marcel Beyer, Jahrgang 1965, ist kein deklamatorischer Dichter. Ist kein diktierender Dichter. In der Lyrik ändert der Lyriker sein Leben. Seine Gedichte sind Szenen des geänderten Lebens. Aufgestellt wie Dominosteine. Zeile hinter Zeile. Eine Linie bildend. Die des unumstößlichen Lebens?

Ohne Bildung und Bereitschaft sich zu bilden, ist der Dichtung des Marcel Beyer nicht zu beizukommen. Der Kölner hält sein Ich zurück, ohne es herauszuhalten. Sein Ich ist im Wir, Uns, Du. Wir, Uns, Du zu sagen ist für den Lyriker eine Möglichkeit, sich dem Ich zu nähern. Nicht dem Ich, das sich in seiner Isolation gefällt. Das auf den Zuruf eines Rilke wartet. Auch nicht jenes Ich sozialistischer Prägung, das sich im massenhaften Wir verkroch: die Parole „Vom Ich zum Wir“ mißverstanden!

Beyer läßt sich die Ansprüche nicht ausreden, die für das Vom-Ich-zum-Wir und Vom-Wir-zum-Ich gelten. Die Ansprüche kommen in seiner Lyrik gleichberechtigt zur Geltung.

Die Gedichte sind Gedichte vom Leben in der Gesellschaft und somit des gesellschaftlichen Lebens. Das Sein des Subjekts wird nicht losgelöst vom Sein der Gesellschaft gesehen. In Deutschland gibt es nicht viele Dichter, die konsequent das Sein der Gesellschaft und das Sein in der Gesellschaft zum Gegenstand der Gedichte machen, ohne zu agitieren, zu propagieren, zu sanktionieren. Wenn Beyer für das Titelgedicht seines Buches Falsches Futter die Methapher vom Kanonen-Futter adaptiert und umfunktioniert, kann er sinn-bild-haft formulieren, wie er die ewige deutsche Lands-Knecht-Elends-Herrlichkeit sieht. Zu der gehören so synonymhafte Biographien wie die der Frau Riefenstahl. Biographien, die endeten, wo der faschistische Krieg verreckte („Halber Kessel“).

Für Beyer ist Gegenwart auch die fortwährende, verlängerte Vergangenheit, ist Generation auch die fortgesetzte, gewesene Generation. Beyer begreift Gegenwart, indem er nicht mit der Vergangenheit bricht, nicht die vorausgegangenen Generationen ignoriert.

In den Gedichten des Lyrikers ist das Gestern mit all seinen Verflechtungen, sind die Gewesenen mit all ihren Verwicklungen. Die Verflechtungen des Gestern zu sehen wie die Verwicklungen der Gewesenen heißt, Heimat-Kunde zu betreiben, um sich das Verstehen und die Verständigungen über das Hier und Heute zu erleichtern. Hier und Heute kann ebenso Kairo, wie Wien, wie Halbe sein. Allen Orten ist gemeinsam, daß sie Orte mit Geschichten sind, die Geschichte wurden und werden. Geschichte ist nicht alles für Marcel Beyer. Geschichte ist alles für seine Gedichte.

Vierzig Jahre nach Rilkes Tod, zwanzig Jahre nach Fünfundvierzig, drei Jahre vor Achtundsechzig geboren, straft der Lyriker diejenigen Lügen, die sich hinter der Formal „Generation X“ verschanzen. Marcel Beyer sorgt sein Hineingeboren-Sein, und er sorgt sich. Nicht im Unglück zu sein bedeutet nicht, im Glück zu sein. Bedeutet den wechselnden inneren wie äußeren Änderungen ausgesetzt zu sein. Die ständige Veränderbarkeit ist in den Gedichten. Profane Zukunftsvisionen posaunt Marcel Beyer nicht hinaus. Er bleibt dabei festzustellen: „In manchen Stunden werden meine Augen dunkel, dann rase ich zurück in meine Dunkelheit, bevor die ersten Worte kamen ...“

Björn Berg


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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