Rezension

 

Thilo Bock

Vogel sucht Fallschirm

verlag am park, Berlin 1997, 192 S.

 

„Ecce poeta“ hat wohl lange kein Lektor mehr ausgerufen, wenn er auf einen 23jährigen Germanistik-Studenten getroffen ist, und auch Günther Drommer, jahrzehntelang beim renommierten DDR-Aufbau-Verlag beschäftigt, hat das nicht getan. Er hat auch nicht geweint vor Begeisterung, als er die Manuskripte der Erzählungen des Westberliners Thilo Bock in Händen hielt. Trotzdem ist ein erstaunliches Buch entstanden, trotzdem hat es Günther Drommer, der sich bei Aufbau um die junge Literatur bemühte, u. a. Uwe Kolbe herausgab, wieder einmal verdient, daß man ausruft: „Siehe da, ein großer unter den Lektoren!“

Die fünfzehn Erzählungen auf fast 200 Seiten, erschienen unter dem Titel Vogel sucht Fallschirm, sind absolut undokumentarische Literatur mit absolut dokumentarischem Wert. Sie erzählen sehr viel über die Jugend in der deutschen Hauptstadt, die vor sieben Jahren noch nur zum Teil Hauptstadt war für einen Teil Deutschlands und ansonsten irgend etwas mit einer Mauer drumherum. Der gestandene Ostlektor und der junge Westautor sind sich begegnet auf einer Literaturwerkstatt im Westen. Hier erfolgte das, was man gemeinhin Entdeckung eines Talents nennt, auch wenn bis dahin schon zwei Theaterstücke von Thilo Bock in seinem Heimatstadtteil Reinickendorf uraufgeführt worden waren. Drommer brachte seine Entdeckung in den Osten, zum „verlag am park“, der bis dahin kaum Berührung mit dem Westen und überhaupt keine mit der jungen Literatur hatte. Eine Literaturwerkstatt in Hellersdorf, einem der berühmt-berüchtigten Ostberliner Plattenbauviertel, besuchte Thilo Bock, dazu natürlich seine Buchpremiere, seitdem wurde er im Osten nicht mehr gesichtet.

Dieses Dilemma findet sich in seinem Debütband wieder. Keine der Erzählungen spielt im Osten, nur in einer spielt Lexik aus der untergegangenen DDR eine Rolle: Mielkes Stasi-Ministerium und „Ratsherrenkorn“ aus dem volkseigenen Betrieb in Nordhausen/Thüringen. Ein Personenname, ein Markenname - zwei Vorurteile. Warum das? Auch der Jugend Berlins ist es bisher nicht gelungen, zueinander zu finden, sich über die inzwischen unsichtbare Grenze zu wagen, die überbaut, aber nicht getilgt ist. Jede Seite findet die Architektur der anderen Seite unerträglich, fühlt sich beklommen gemacht, ja abgestoßen von ihr. Kommunikation fehlt, fehlendes Verständnis folgt daraus. Genau das belegt Thilo Bocks Buch, in dem eine Handvoll Gestalten in mehreren Erzählungen auftaucht: Jugendliche aus Westberlin, unreif-erwachsen, die für die großen überregionalen Medien Rezensionen oder Enthüllungsberichte schreiben, die durch ihre Skurrilität zum Lachen reizen, die absolut unpolitisch sind, selbst wenn sie für den „Spiegel“ schreiben, sich mit der zeitgenössischen Literatur (Grass) kritisch-hämisch auseinandersetzen, ohne je Sturm-und-Drang-Dimensionen der Väterschelte zu erreichen. Ihre Politik ist es, Bier zu trinken,
einen kleinen Vogel zu haben und einen großen Fallschirm zu suchen, um nicht auf dem Großstadtasphalt zu zerschellen. Kein Schrei und kein Weinen nach Liebe, ein Lachen danach. Das macht den dokumentarischen Wert von Bocks Vogel sucht Fallschirm aus. Die literarische Leistung besteht in der individuellen Erfassung der, sagen wir, gruppenspezifischen Sprache Westberliner Jugendlicher, im Konstatieren eines gewissen perversen Spaßes inmitten der Perspektivlosigkeit. Diese Form der Schilderung von Hoffnungslosigkeit macht zumindest Hoffnung. Eine desillusionierte Jugend weiß sich auszudrücken.

Was die Hoffnungen des Autors auf eine weitere schriftstellerische Entwicklung betrifft, so wird er beweisen müssen, daß die nächste Publikation mehr zu bieten hat als diese dokumentarische Bestandsaufnahme, die nun geleistet ist. Daß sie nun geleistet ist, sieh da! Thilo Bock war's.

Andreas Fritsche


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite