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Helmut Hirsch

Stein und Gestirn,
auch Kanapee im Gebirge

Leseerfahrungen mit Gedichten


Lesen heißt borgen,
daraus erfinden abtragen.
Georg Christoph Lichtenberg


Das Leben ist immer willkürlich. Auch das eines Gedicht-Lesers. Manchmal kann eine Lese-Will-Kür auch gelingen. So entstehen Leseerlebnisse. Nicht nur Leser, auch Dichter leisten sich Willkürlichkeiten. Die Entscheidung für dieses Wort, jene Zeile, sie muß sein. Alles hat seinen Anfang: Der Dichter dichtet, der Leser liest. Während Nicht-Leser sich womöglich schon wieder ins abendliche Blaulichtgeflimmer gesetzt haben, beginnt der Leser seinen abendlichen Streifzug, entlang der Regale.

Es kann gut sein, wenn die Stunde des Lesers auch im Gedicht erscheint. Vor hundert Jahren schrieb Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926) ein Abend-Gedicht, womit der Leser hier seinen Anfang macht. Es geht so:

Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn im Damast;
ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.

Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, -
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon.

Es scheint, als rückten hier Dichter und Leser ganz nahe. In der abendlichen Welt fühlen sich beide vertraut, im erinnernden Erleben wirken bekannte Töne und Bilder fort, so wird geträumt. Es bleibt im Gedicht offen, was der Traum von der dritten Seite bringen wird. Dem Leser, der seinen Streifzug fortsetzt, kann diese dritte Seite - als eine von vielen Möglichkeiten -, auch ein anderes Rilke-Gedicht sein. Es ist ein halbes Jahrzehnt später entstanden und heißt „Abend“. Es nimmt die Vielstimmigkeit dieser Tageszeit sogleich wieder auf. Schön kann man an diesem Beispiel sehen, wie das zuerst gelesene Bild des sich wandelnden Licht-Abends zu plötzlich sich verändernden, ganz ins Weite reichenden Bildern führt. Das Gedicht hebt gleichsam ab von der Erde, ist unterwegs und beschwört vergehende Nacht und unendlichen Kosmos:

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben, lang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Stein und Gestirn, es sind im Gedicht die beiden Welten, mit denen das Ich lebt. Dieses zugleich Stein- und Gestirn-Sein ist eine Maxime aller Dichtung, Grunderfahrung des Lebens.

Jeder Leser ist ein anderer Leser, vor allem aber ist er ein Leser seiner selbst. So entstehen Gedichte (mehr noch als Prosa oder Drama) in jedem Leser neu, immer wieder anders. Gedichte lesen ist für den, der die Anfangshürden überwunden hat, wie unablässiges Wandern durch bekannte und rätselhafte Bild- und Wort-Landschaften. Auch Fremdes taucht auf, das uns bekannt vorkommt.

„Wir alle haben zwei Leben“, sagt der portugiesische Dichter Fernando Pessoa (1888 bis 1935). „Das wahre, das wir uns in der Kindheit erträumen und als Erwachsene weiterträumen auf Nebelgrund; das falsche, das wir gemeinsam mit andern verbringen, das praktische, nützliche.“

Der Leser, dem diese Einsicht nicht verwunderlich vorkommt, interpretiert nicht, er lebt in und mit den Wörtern, erlebt sie und somit sich selbst. So läßt sich ein Bild des gerade gelesenen Gedichts von Rilke aufnehmen und bei einem anderen Dichter verwandelt und doch ähnlich wieder entdecken. Die schon hervorgehobenen Elemente Stein und Gestirn, materiell und poetisch, zum Beispiel befinden sich in korrespondierender Nachbarschaft mit Erlebnissen und Visionen im Werk von Erich Arendt (1903 bis 1984):

... Sei wie das Wasser - sterblos.
Oder ein Stein auf Lemnos
zu sein, erdgerecht, der hinab
sinkt, unmerklich,
und taub -
Wind,
der manchmal noch kommt
auf Schultern schwer, und
dein Segel, der
weiße Traum, starr ...

Es sind inzwischen noch ein paar weitere Elemente hinzugekommen. Das Gedicht „Odysseus' Heimkehr“ versetzt den Leser in griechische Inselwelt, umgeben von Urbildern, Mythen, die Gelebtes, Hoffen und Fürchten umschließen. Das Gedicht, nicht auf Melodie des raschen Eindringens aus, will keine Lösung von Dingen, die nicht auflösbar sind. Denn die lebendigen Beziehungen des Dichters (oder des Lesers) zwischen dem Meer, der All-Natur und dem Kosmos bleiben über das Erkennbare hinaus jederzeit mythisch. So herrscht ein Spannungszustand, in den sich der Leser, wie auch der Betrachter eines Bildes hineinversetzt. Im Wort, im Bild, das zugleich Ereignis, Bewegung und Unterwegssein ist, treffen das dichtende und das lesende Ich aufeinander. Das ist nicht Mystizismus. Nur Besucher von Zaubervorstellungen wollen wissen, was alles im Verwirrspiel des Zaubertricks passiert. Lyrik-Leser verlassen sich hingegen aufs kunstvolle Spiel der Gedanken, der zeitlosen Bilder, ausschweifend und universell. Im Gedicht „Nächtliche Körpermelancholie“ von Oskar Loerke (1884 bis 1941) fragt und antwortet das lyrische Ich:

Was ist nun Ich?
Die Füße sind wie Berge in der Ferne,
zu fremd und schwer, ich kann sie nicht bewegen.
Das Herz wie eine einsame Zisterne,
und viele öde Meilen mir entlegen.

Ich weiß:
Die Hand hängt tief in einem Wald von Kohle,
die Stirn trägt eine Hauptstadt, grell von Lichtern.
Auf meinen Füßen schläft das Eis der Pole,
darunter schluckt das Meer in Strudeltrichtern.

Ich werde nichts fürchten und nichts vermissen
und ohne Schmerz und ohne Hunger liegen
und nur soviel wie große Flügel wissen
auf einem Sterne mit Gestirnen fliegen.

Dem Leser fällt auf: Es gibt unter den Dichtern Verwandtschaften. Sie suchen An-Rede oder Zu-Spruch, versuchen irrlichterndem Wahnwitz ein Bild zu geben. Oft scheint es, als träfen sie sich in einem magisch abgesteckten Geviert, das zwischen ihren Versen angelegt ist. Gestirn, als Signalwort für den schweifenden, sich auf eine phantastische Reise begebenden Menschen, sehen wir bei Oskar Loerke schon anders schattiert als noch bei Rilke. Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843) hat das Wortgeheimnis der poetischen Sprache im Brief an den Freund Neuffer im Juli 1794 wunderbar benannt. Er schreibt: „Die Sprache ist Organ u n s e r e s Kopfes, u n s e r e s Herzens, Zeichen unserer Phantasien, u n s e r e r Ideen, uns muß sie gehorchen. Hat sie nun zu lange in fremdem Dienst gelebt, so, denk ich, ist fast zu fürchten, daß sie nie mehr ganz der freie, reine durch gar nichts als durch das Innre, so und nicht anders gestaltete Ausdruck unseres Geistes werde.“

„Ausdruck unseres Geistes“, dem wollte auch ein „schwieriger“ Dichter wie Erich Arendt entsprechen. Und nicht im „Geröll der Silben“ versinken. Sprechend wird das eigene Ich erkundet:

„... ich seh / das Versteinen / im Stein.“

Der Stein, schwer zu erschütterndes Symbol für Werden und Vergehen, gibt dem Menschen zugleich Auskunft über dessen Endlichkeit. Wie wichtig einem Mann wie Erich Arendt das Leben der Steine im Leben war, kann der Leser als Wanderer erfahren, wenn er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof am Grab des Dichters einen Hühnergott von beträchtlichen Ausmaßen entdeckt.

Über die Zeiten hinweg findet Zwiesprache zwischen den Dichtern statt. Es scheint, als hebe Paul Celan (1920 bis 1970) den Stein wieder auf:

Welchen der Steine du hebst -
du entblößt,
die des Schutzes der Steine bedürfen:
nackt,
erneuern sie nun die Verflechtung.

Sprache und Leben sind immer Gefährdungen ausgesetzt. Unruhige Flußfahrt kann die Biographie manches Poeten genannt werden. Das Ende dieser Fahrt: oft tragisch, abrupt auch, endend wie bei Paul Celan. In den späten sechziger Jahren schreibt er einmal das Wort „Schwermutsschnellen“. Das dichtende Ich, der Sprache zwar mächtig, doch der Ohnmacht im Leben nicht minder ausgesetzt, erscheint einmal bei Paul Celan auch ganz reduziert, an einem Null-, dem Gefrierpunkt der poetischen Energie strandend. Im Gedicht scheint der Abgrund, in den der Dichter ein Jahr später selbst fallen wird, vorgezeichnet:

Stehen, im Schatten
des Wundenmals in der Luft.

Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt,
für dich
allein.

Mit allem, was darin Raum hat,
auch ohne
Sprache.

Der Leser lebt mit Gedichten. Sie können erkannte und rätselhafte Bilder in seinem Alltag sein. Auch Dichter haben nicht immer nur die eigenen Kinder ihrer Phantasie vor Augen. Bertolt Brecht (1898 bis 1956) bekam die Erstausgabe des Gedichtbandes Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann (1926 bis 1973). Er hat überaus gründlich darin gelesen. Das Exemplar, es befindet sich heute im Besitz der Schauspielerin Käthe Reichel, zeigt überraschende Lesespuren: „Es ist nicht allzuviel stehengeblieben von den Gedichten, eben von manchem Gedicht nur Zeilen am Anfang, dann eine am Schluß“, äußert sich die Besitzerin dieser Besonderheit aus dem Jahre 1954. Fünfzehn Jahre später, die Bachmann wußte nichts von diesem Streich, sitzt die Dichterin über dem Entwurf eines Vorwortes zu einer Anthologie mit Brecht-Gedichten und schreibt: „Brecht ist ein sehr merkwürdiger Dichter. Eine radikale Intelligenz, ein Bleigewicht, eine Luftleichtigkeit, das sind Voraussetzungen, es wird Machbares gemacht.“

Nähe oder Ferne der Dichter kann den Leser anregen, verwundern und bisweilen sehr amüsieren. Und manchmal scheint es so, als spiele sich der übliche Kleinkrieg zwischen den Menschen auch hier als Wortgefecht vor oder mehr noch hinter dem Vorhang ab. Bisweilen stoßen Dichter (Dichterlinge bleiben hier unberücksichtigt) sogar hart mit den Köpfen zusammen, und, wo das ausbleibt, sieht der Eingriff in den anderen Text wie eine Gedankenoperation aus. Die letzte Zeile eines Gedichts bei Ingeborg Bachmann lautet: „Wein! Aber winke uns nicht.“ Brecht, der bizarre Lakoniker, macht daraus: „Weine, nur winke uns nicht.“ Das klingt zwar entschiedener, widerspricht aber dem Gedankenverlauf des Gedichts. Was Brecht konnte, ist auch dem erprobten Gedichtleser erlaubt. Wer in einem Gedicht ihm wesentliche Wörter markiert, kann im Glücksfall sogar den ursprünglichen Intentionen des Dichters, der oft von Wort zu Wort und nicht von Zeile zu Zeile sich voranbringt, nahekommen. Es gibt ja sowieso kein absolutes und verbindliches Deutungs- und Erfahrungsmuster für Literatur. Und sogar eine „falsche“ Lesart kann für den Leser immer noch die beste aller möglichen sein. Während der Seismograph des Vulkanologen auf Null verharrt, ereignen sich im Inneren des Lesers unermeßliche Eruptionen. Die Wertigkeit eines bestimmten Wortes, sein Klang, der südlich der Rhein-Main-Linie anders empfunden wird als in den norddeutschen Wiesen, kennt viele Stimmen. Ohne den Gehalt des eigenen Lebens lesen sich wahrscheinlich Gedichte wie Bildunterschriften. Heinrich Heine (1797 bis 1856), forsch, immer auf das Gewicht des eigenen Wortes vertrauend, sprach einmal von der Hoffnung, daß ein gutes Gedicht eins für alle Zeiten sei.

Hugo von Hofmannsthal (1874 bis 1929) hingegen sprach im Hinblick auf die Erfahrbarkeit von Gedichten einmal vom „Unausgewickelten“, weil er wußte, daß der Leser seine eigenen Erinnerungen und Assoziationsströme bei der Lektüre nicht zurückhalten kann. Deswegen auch ist Poesie universell, während sie in unbekannte „Landschaften“ vordringt, legt sie bekannte Gegenden frei, entwirft somit eine nach vielen Seiten hin geöffnete „sphärische Welt“ (Erich Arendt).

Auch aus trüber Erfahrung schafft sie Entwürfe, gebiert das Unaufgegangene im Wort. Friedrich Hölderlin fragte einmal: „Möcht' ich ein Komet sein? Ich glaube. Denn sie haben die Schnelligkeit der Vögel; sie blühen an Feuer und sind wie Kinder an Reinheit. Größeres zu wünschen, kann nicht des Menschen Natur sich vermessen.“

Dieser Höhenflug (Stern, Gestirn oder Komet), und das ist das Hauptthema aller Dichtung, bedarf der ständigen Wort- oder Kurskorrektur, der dichterischen Balance über, auf, gewiß auch unter der Erde, wo die Steine leben und ruhen. In einem Brief vom 1. Januar 1799 schreibt Hölderlin, nun schon wieder ganz auf der Erde: „Der nach optischen Regeln gezeichnete Vor- und Mittel- und Hintergrund ist noch lange nicht die Landschaft, die sich neben das lebendige Werk der Natur allenfalls stellen möchte. Aber die Besten unter den Deutschen meinen meist noch immer, wenn nur erst die Welt hübsch s y m m e t r i s c h wäre, so wäre alles geschehen.“

Im Gedicht bricht Hölderlin diese Annäherung an eine Symmetrie der Zustände auf, aber er kennt die täglich hereinwehenden Rückfälle. Sein Gedicht „Der Gang aufs Land“ besaß in den siebziger und achtziger Jahren in Old East Germany Symbolwert, oft zitiert und in vielen Gedichten variiert, wie ein wandelnder Fixstern. Es beginnt so:

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließt der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.

Es geht noch weiter in diesem Gedicht, Hölderlin spricht von der wohl schwersten aller Arbeiten, daß dem Menschen die Zunge zum offenen Wort gelöst werde, damit ihm das Herz aufgehe, und:
„Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen,
Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein.“
Er gedenkt ferner der durchlebten und eingestandenen Mühen: „Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.“
Vergeblich, aber nicht umsonst, vertane, vergangene, erlebte Zeit: Leben. Provisorisch und der Willkür beständig ausgesetzt, zugleich immer wieder ein neuer Entwurf, Idee zu einer anderen Möglichkeit. Eine herbe und dennoch das Bleigewicht der Umstände abschüttelnde Nuance findet sich auch im Gedicht von Andreas Gryphius (1616 bis 1664):

Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk; wo Tier und Vögel waren,
Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!

Getrieben von den Mahlsteinen der Zeit, zermürbt von den Lasten des Alltags, schaut Gryphius zu seinem Gott, der möge ihm „nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten“!

Noch universeller als alle Dichtung ist das Leben. Doch die Bruchteile des unendlichen, wirklichen und vorgestellten Lebens schimmern in der Poesie wie Goldkörner. Sie gehen verloren und werden immer wieder entdeckt. Alles ist Spruch und Widerspruch. Der Ruf des Dichters Gryphius konstatiert auch die Dauer, die unvermeidliche, in der Wiederholung des schönen, wilden, blinden Lebens: „Dieses Leben kommt mir vor als eine Rennebahn.“

Zu allen Zeiten setzen die Dichter ganz auf die Wirkung des von ihnen gefundenen Wortes. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 bis 1803), wegen seiner strengen kanonischen Forderungen an die Sprache auch gern als Zuchtmeister apostrophiert, hat einmal ganz trefflich bemerkt: „Die Sprache hat also für den Poeten weniger Wörter, der Dichter kann diejenigen Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat ..., durch die Stärke und die Stellung der völlig ausgedrückten ähnlichen, mitausdrücken.“

Johannes Bobrowski (1917 bis 1965) nahm Klopstocks Faden auf. Seine Gedichte, zwischen Strenge, konzentrierter Balance und umherschweifender Bilderflut wandernd, haben die Strahlkraft der Wörter neu entdeckt. Aus Ratschlag wurde Widmung: Das Klopstock gewidmete Gedicht beginnt so:

Wenn ich das Wirkliche nicht
wollte, dieses: ich sag
Strom und Wald,
ich hab in die Sinne aber
gebunden die Finsternis,
Stimme des eilenden Vogels, den Pfeilstoß
Licht um den Abhang ...

Es werden hier summiert: leidvolle Geschichte, die Schuld der Deutschen am Schicksal der Völker des Ostens, gebunden in Naturbilder, vor allem erscheinend in der Stimme des fliegenden Vogels. Bei Johannes Bobrowski hat einmal jemand die Gedichte genau durchforscht und herausgefunden, daß das Wort „Vogel“ vor allen andern dominiere. Und nicht zufällig fallen bei diesem Dichter Verben auf, die sich auf Gesicht und Gehör beziehen: hören und sehen, singen und sagen, rufen und reden, sprechen und schreien, unter und neben ihnen das Lieblingswort tönen. Diese Vorliebe für bestimmte Wörter, deren Möglichkeiten sich im Gedicht entfalten, deren Stellung im Wortfeld des Verses erprobt wird, gibt der Stimme des sprechenden Dichters immer wieder eine neue Farbe, eine andere Schwingung. Im fliegenden, klopfenden Rhythmus des offenen Verses erscheint mit dem Vogel sogleich eine erinnerte Landschaft, in ihr lebt Erfahrung, strahlt Bildhaftigkeit, werden im Leser Assoziationen geweckt. Ganz knapp kann das einsetzen, zum Beispiel so:

„Die Raschelstimmen, Blätter, Vögel, drei Wege ...“ Oder ganz dicht nebeneinander: „Schwalbenflug, Himmel ...“ Das lyrische Ich kann auch selbst anwesend sein: „Einst flieg ich auf/ mit der Laubvögel Sprüche im späten / Jahr ...“ Im Gedicht „Vogelstraßen“ hört das Ich „den Zugvogelschrei / den Lufterschütterer, den weißen / Schrei, der die Luft zerschlägt.“

Und das Gedicht „Kindheit“ wird mit einem Erlebnis eröffnet, das fortlebt: „Da hab ich / den Pirol geliebt ...“

Auch der Nichtdichter hat ein Reservoir bestimmter Wörter, auf die er bei den verschiedensten Gelegenheiten zurückkommt. Mit der historischen Belastung und dem überanstrengten Gebrauch vieler Wörter im zwanzigsten Jahrhundert sind auch neue Töne, ungewohnte Akkorde und bislang ungehörte, unerhörte Stimmen in die Welt der Poesie getreten. Das Spiel mit den Wörtern wurde artifizieller, pikanter und lakonischer. Auch blieb das Gedicht nicht unberührt von schroffen Abstürzen, Irrgängen in den Biographien derer, die ihr Leben lang aufs Wort setzten. Gottfried Benn (1886 bis 1956) ordnet im Vers Fragmente des Lebens, er findet:

Seelenauswürfe,
Blutgerinsel des zwanzigsten Jahrhunderts ...
Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik:
das ist der Mensch von heute,
das Innere ein Vakuum,
die Kontinuität der Persönlichkeit
wird gewahrt von den Anzügen,
die bei gutem Stoff zehn Jahre halten.
Der Rest Fragmente,
halbe Laute,
Melodienansätze aus Nachbarhäusern,
Negerspirituals
oder Ave Marias.

Die Zeilen sind nicht mehr fließend wie einst im Reich der reimenden Dichter, fast wirken sie erzwungen. Doch sprechen die Wörter das deutlich genug aus, worauf es dem Dichter ankommt: Fragmente einer willkürlich geschichteten, kunstvoll unsortierten und doch erlebten Welt. Die schwärzesten Schatten eines Jahrhunderts, die selbst bei Lichte noch dunkel bleiben, können nun voller Ironie und Übermut im Gedicht auftauchen. Von Peter Rühmkorf (geboren 1929) gibt es vier Verse zum Thema „Verkehrte Welt“. Glück und Galle, auch „Schlaraffen“ und „Stiefdämonen“ kommen darin vor. Letztgenannte Plagegeister „trinken sich die zweite Einfalt an“, und das klingt so:

Der Muhzug pfeift, das Tutschaf bellt,
hier will auch ich bei meiner Schlimmsten wohnen,
preisend die beste aller, die verkehrte Welt.

Die Landschaft der Dichter durchstreifend, trifft der Leser auch auf eigenartig schimmernde Mixturen artistischen Grolls. Lust und Unmut reichen von bitterem Sarkasmus bis asketischem Ernst. Was da geschieht, ist dennoch energieerhaltend, die Kugelgestalt der Erde wird nicht bezweifelt, das Walten der Ur-Kräfte ist noch im Gange. Bei Günter Eich (1907 bis 1972) tönt das so:

Erfahrungen abdrehen
und ungehemmt
zählen bis
93, auch weiter.

Jedenfalls
für die Silvesternacht
1999
bin ich verabredet.
Weiter im Gebirge, auf
einem Kanapee,
freue mich, man hat
wenig Abwechslung.

Im Wort lebt die Hoffnung auch über das irdische, nicht ganz aufgegangene Leben hinaus. Es ist dies aber kein Altersscherz des Dichters Eich, denn schon einige Jahre früher endet bei ihm das Gedicht „Landschaft“ mit dem Vers:

Und die Landschaft lügt. Die Erde ist vergeben.
Manchmal träumt man sich nur Stein und Gras,
und sieht fremd in dieses andre Leben,
ganz von weitem und durch Glas.

Das Gedicht aller Dichter lebt immer vom anderen Blick ins Leben. Was von ihnen gesehen wird, erinnert aber stets an Bekanntes, durch Kunst verfremdet und benannt, und doch: mit Anstrengung entschlüsselbar. Es kann die lange Erfahrung eines bestimmten poetischen Blicks auch tödlich sein. Irritierend, abschweifend oder ungehobelt enthusiastisch allemal. Manchem Dichter versagen die Wörter ihren Beistand, nicht jeder vermag „die Unendlichkeit nachahmen“ (Hölderlin) oder beständig das Profane im Vers auszupeitschen. Es erleichtert den Zugang zur Zunft der Dichter, wenn der Leser sich ein Gestirn vorstellt, das, solange es existiert (der Dichter lebt), energiegeladen ist und Phantasie abgibt (auch abstrahlt). Und wie der Sterngucker am Nachthimmel Himmelskörper entdeckt, die längst nicht mehr existieren, doch ihr Licht noch für den Betrachter aussenden, verhält es sich mit den Dichtern und ihren Wortgebilden. Das fortstrahlende Licht lebt im Gedicht, sozusagen als wörtlich-redende Urkraft eines eigenen Denkens und Fühlens. Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 bis 1860) hat es so beschrieben: „Urdenken _ Der innerste Kern jeder echten und wirklichen Erkenntnis ist eine Anschauung; auch ist jede neue Wahrheit die Ausbeute aus einer solchen. Alles Urdenken geschieht in Bildern: darum ist die Phantasie ein so notwendiges Werkzeug derselben, und werden phantasielose Köpfe nie etwas Großes leisten, _ es sei denn in der Mathematik. _ Hingegen bloß abstrakte Gedanken, die keinen anschaulichen Kern haben, gleichen Wolkengebilden ohne Realität.“ Freilich übersieht der Philosoph, daß auch die Mathematik der Phantasie bedarf, nur eben nicht von Bildern lebt.

Erinnerung und Erfindung gehören zur Realität des Gedichts. Sich gern erinnern, das ist zugleich eine Voraussetzung für das Lesen von Gedichten. Erich Kästner (1899 bis 1974) schrieb mit der Würze feinster Ironie:

Die Erinn'rung ist eine mysteriöse
Macht und bildet die Menschen um.
Wer das, was schön war, vergißt, wird böse.
Wer das, was schlimm war, vergißt, wird dumm.

Wie alles, was im Leben Spaß macht, kann auch das Lesen von Gedichten anstrengend sein. Um so pikanter ist es, daß im Alltag von Menschen, die nie und nimmer freiwillig Gedichte lesen, oft und gern bei der Hervorhebung von köstlichen, jedenfalls materiellen Vorzügen die Lobformel „ein Gedicht“ gebraucht wird. In Sachsen hört man auch „gute Butter“ für alles, was gelingt. Dieses überraschende „ein Gedicht“ ist vielleicht doch ein verstohlener Fingerzeig von Leuten, die insgeheim und unbewußt der Kunst des Dichtens, des genußvollen Innehaltens, nahe sind. Denn solch lapidares Rumoren wie „ein Gedicht“ ist die Denk- und Lebensart eines Genießenden, also eines Menschen, der wortlos oder wortkarg beginnt, etwas zu lesen, was noch nicht geschrieben steht.

Es ist spät geworden, was aus einem Abend mit Gedichten doch alles so werden kann. Der mitternächtliche Gedicht-Leser gibt hier zum Schluß noch ein schönes „Sechszeilengedicht“ von Günter Bruno Fuchs (1928 bis 1977) bekannt, denn es zeigt ganz wunderbar, daß alle dichtenden Gestirne ihrer Erdenschwere wegen ohne Wasser nicht auskommen:

Dies ist die erste Zeile.
Mit der zweiten beginnt mein Gedicht zu wachsen.
Wenn ich so weitermache, komme ich bald an den Schluß.
Die vierte Zeile hilft mir dabei. (Schönen Dank, vierte Zeile!)
Der Gerichtsvollzieher, sage ich noch, trägt seine Eier ins
                    Kuckucksnest.
So, ich habe meine Arbeit getan und lege mich schlafen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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