Eine Rezension von Hans-Rainer John

Ein Slumrowdy in Harlem

Henry Roth: Die Gnade eines wilden Stroms
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer.
Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin 1996, 392 S.

Roth? Nicht einfach, sich unter den Schriftstellern dieses Namens zurechtzufinden: Joseph Roth (1894-1939) gelang mit dem Radetzkymarsch ein wehmütiger und ironisch-kritischer Abgesang auf die k. u. k. Monarchie, Eugen Roth (1895-1976) schrieb hintergründig-humorvolle Gedichte in der Tradition von Busch und Morgenstern, von Henry Roth (1906-1995) stammt das Buch, das hier zu rezensieren ist, Philip Roth (geb. 1933) verfaßte Romane über das Leben des großstädtischen jüdischen Bürgertums (u. a. Sabbaths Theater), von Gerhard Roth (geb. 1942) stammt der Zyklus Die Archive des Schweigens und Friederike Roth (geb. 1948) schrieb Hörspiele, Theaterstücke (u. a. Der Ritt auf die Wartburg) und Lyrik.

Henry Roth, in Galizien geboren und als zweijähriges Kind mit seinen Eltern nach New York gekommen, hat wohl von allen am wenigsten Eingang in Lexika und Nachschlagewerke gefunden, denn er hatte nach Erscheinen seines Erstlingsromans Nenne es Schlaf im Jahre 1934 sechzig Jahre lang geschwiegen. Erst 1994 brachte Martin's Press sein zweites Buch, Die Gnade eines wilden Stroms, heraus. Als Neunundsiebzigjähriger hatte der Autor wieder zur Feder gegriffen und aufgeschrieben, was er zwischen 1914 und 1920, also zwischen seinem achten und vierzehnten Lebensjahr, im Asphaltdschungel von East Harlem erlebt hatte.

Die Juden kamen damals von überall her nach Amerika - aus Rumänien, Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn, alle beladen mit Sorgen und Ängsten, leidgeprüft und bemitleidenswert in ihrem Kummer, aber auch entschlossen, sich zusammenzuschließen und Ränke zu schmieden gegen das sorgenfreie und unverwüstliche Leben der anderen, vor allem der Iren und Italiener, die schon in der Neuen Welt Fuß gefaßt hatten und überheblich auf die Juden herabsahen. Das ist der Rahmen für das Leben, das Ira Stigman, der kleine Junge in Kniehosen und langen schwarzen Strümpfen, Sohn eines Kellners, führt. Er ist Jude, er ist nicht sehr geschickt, er ist nicht sehr sportlich, er ist alles andere als wohlhabend - so wird er oft gehänselt und verspottet, muß sich einer Übermacht erwehren. Die Mutter liebt ihn zärtlich und will, daß er eine gute Bildung erhält, damit er es zu etwas bringen kann, aber der Vater ist jähzornig und unberechenbar, launisch und unüberlegt, unschlüssig und schroff; das bringt ihn um manchen Job und stürzt die Familie mitunter in finanzielle Notlagen. Sie wohnt in einer Bruchbude, aber die kostet nur 12 Dollar im Monat. Immerhin kann der Junge nach Absolvierung der Grundschule die Junior High School besuchen, eine untere Klasse der Wirtschaftsoberschule, aber nach dem Unterricht muß er im Delikatessenladen von „Park & Tilford“ arbeiten, um zum Unterhalt der Familie beizutragen.

In vielen Episoden werden Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten, Nachbarn, Lehrer und Mitschüler lebendig, der Alltag, mancherlei Streiche und Erlebnisse, Ungeschicklichkeiten und Überraschungen, Freud und Leid, Feste und kleine Unglücksfälle werden minutiös und einfühlsam geschildert - flammende Leidenschaft, atemverschlagende Abenteuer, aufregende Intrigen und großes Blutvergießen kommen nicht vor. Dabei gelingen unterderhand interessante Porträts - vom mitreißend fröhlichen Mitschüler Farley etwa, vom warmherzigen und großzügigen Onkel Moe, vom lebenserfahrenen und klugen Onkel Louie zum Beispiel oder von dem lausig-gewissenlosen Spanischlehrer Lennard, der seine Schüler sexuell bedrängt und mißbraucht, oder vom tüchtigen und verständnisvollen Vertriebschef Klein und dem schwarzen Arbeiter Harvey bei „Park & Tilford“.

Der Autor sieht sich im Rückblick unbeschönigt als selbstverliebten, zügellosen, einsamen, ziellosen Taugenichts, der von seinen Mitschülern als Dummkopf oder Trottel bezeichnet wird. Aber Ira ist klüger, als er vorgibt, und allmählich wächst der naive Knabe auch zum frühreifen Jüngling heran. Er sehnt sich danach, außerhalb der jüdischen Welt akzeptiert zu werden, denn er begreift schnell, daß er es in der Welt des Christentums als Jude schwer zu etwas bringen wird. Er sieht aber auch keinen Wert darin, Jude zu sein, seine Bar Mizwa erscheint ihm als Possenspiel. Wenn er es sogar haßt, Jude zu sein, so ist das auch ein Ergebnis seiner Erlebnisse und Erfahrungen mit Antisemitismus und Rassismus. Den Juden wird unterstellt, ihr Leben kreise um Geschäfte, Geld, Profit, Provision, Zins, aber das alles ist abseits seiner Interessen. Iras Leidenschaft ist das Lesen; zunächst vertieft er sich in Sagen und Märchen, später wendet er sich der realistischen Literatur zu, wird geschätzter Dauerkunde der Bibliotheken.

Die Fäden, aus denen dieses Kinderleben in East Harlem im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewebt ist, sind sehr dicht. Das ist alles sehr authentisch, sehr realistisch, die Atmosphäre ist stimmig. Aber der Zerfall in einzelne Episoden und Bilder von sehr unterschiedlicher Wertigkeit ist doch unübersehbar. Der Autor muß das gespürt haben. Er hat versucht, einen Zusammenhalt zu schaffen, indem er retardierende Texte dazwischenschob: Der alte Roth sitzt über dem Manuskript, er erinnert sich, überlegt, wie er den Stoff am besten packt, hält Zwiesprache mit seinem Computer Ekklesias. Da wird auch ein Altersdasein mit schwerer Arthritis angedeutet, das Zerwürfnis mit seinem Sohn, der Versuch, sich mit seiner Schwiegertochter zu verständigen, eine beglückende Ehe mit M., die ihn zu sich selbst geführt und jene Motivation geliefert habe, die ihn als Schriftsteller bei der Stange hält. Aber diese Ebene gewinnt kein eigenständiges Gewicht, die apostrophierten Figuren finden kein Eigenleben, die Probleme werden nur angedeutet, nicht gelöst, sie bleiben auch nebulös. Der ästhetische Gewinn dieser Interjektionen ist deshalb gering.

Der Verlag hält das Buch für das literarische Comeback dieses Jahrhunderts und die „Frankfurter Allgemeine“ erklärt den Autor zum rechtmäßigen Ahnen von Saul Bellow, Bernard Malamud, J. D. Salinger, John Updike und Philip Roth. „Keiner seiner Zeitgenossen schreibt so gut,“ urteilte die New York Times. Das, mit Verlaub, halte ich für übertrieben. Bei aller Wertschätzung fällt es mir schwer, solchen hochgetriebenen Werturteilen zu folgen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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