Eine Rezension von Thomas Eicher

Wiederentdeckt

Alexander Lernet-Holenia: Die Standarte
Paul Zsolnay Verlag, Wien 1996, 325 S.

Unerhörtes geschieht in diesem Roman: Ein Fähnrich dringt im Belgrader Opernhaus in die Loge der Erzherzogin ein, um sich ihrer Begleiterin vorstellen zu lassen; ein unheimlicher deutscher Kavallerieoffizier zeigt sich informiert über die geheimgehaltene dubiose Herkunft eines jungen österreichischen Kameraden, nachdem er diesem seinen nahen Tod geweissagt hat; schließlich wird kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges ein ganzes k. u. k. Reiterregiment, das sich seinem Marschbefehl widersetzt, von einem anderen, kaisertreuen, niedergemetzelt. - Das alles ist vorgetragen in einem gleichsam lakonischen Ton, angenehm zurückhaltend geschildert, ohne übermäßige Sensationslüsternheit.

Dabei ist das Ganze keineswegs frei von Pathos. Alles dreht sich um die Standarte des Dragonerregiments Maria Isabella, selbst schon 1918 ein Anachronismus, Relikt militärischer Traditionen und gehegter Überrest eines Reiches, dessen Ende unmittelbar bevorsteht. Für Menis, den jungen Helden der Geschichte, die er selbst nach Jahren einem Bekannten erzählt, verkörpert sie gleichwohl den Sinn seiner Existenz. Als junger Offizier wird er nach einer Verwundung und jenem Skandal, den er in der Belgrader Oper provoziert hat, nach Karanschebesch, einem trostlosen Dorf in einer morbiden Landschaft, abkommandiert. Dort begegnet er der Standarte: „Ich fühlte plötzlich, daß ich auf der Suche nach etwas gewesen war, das ich von Anfang an hatte finden wollen, das war die Standarte.“ (S. 105) Und: „Es war etwas Sanftes und Liebliches in der Art, auf die sich, im leichten Lufthauch, die Falten des Brokats ein wenig rührten, etwa wie das Kleid einer Frau sich ein wenig bewegt.“ (S. 81) - Über die Frauenbilder Lernet-Holenias ließe sich einiges schreiben. -

Doch wenig später entschädigt eine äußerst aktionsreiche Handlung für soviel Militärästhetik: Menis rettet die Standarte und sich selbst aus den revolutionären Wirren des Balkans. In Begleitung seines Dieners und Resas, jener Vertrauten der Erzherzogin, die er in Belgrad umworben hatte, kehrt er nach Wien zurück - eine Heimkehr mit zahlreichen spannenden Zwischenfällen. Als Menis schließlich die Standarte bei seinem Kaiser abliefern will, kommt er gerade rechtzeitig, um der Abreise der Majestäten aus Schönbrunn beizuwohnen und sein mühevoll bewahrtes Feldzeichen in ein Feuer zu werfen, das gerade einen ganzen Haufen solcher Insignien untergegangener Größe verzehrt, „damit sie nicht in die Hände unserer Feinde fallen“ (S. 323). Am Ende bleibt ihm als letzte Zuflucht nur noch Resa: „Sie hatte gewartet und stand da, als hätte sie immer schon auf mich gewartet, als hätte sie gewußt, daß ich kommen werde, wenn alles andere vorüber war, und daß sie dann da sein müsse, weil ich niemanden mehr haben würde als sie.“ (S. 324) Daß dies jedoch kein Ersatz für die verlorene (National-)Identität sein kann, darüber belehrt die Rahmenhandlung, die den ehemaligen Fähnrich stets auf der Suche nach seinen verschollenen Kameraden zeigt.

Lösungsvorschläge hat Lernet-Holenia für die österreichische Misere nach 1918 selbst im Erscheinungsjahr der Standarte, das vor allem durch die Februarunruhen, die Verkündung der Ständeverfassung und die Ermordung Dollfuß' gekennzeichnet ist, nicht zu bieten; und auch nach dem Zweiten Weltkrieg gilt in seinen Romanen die Monarchie als verlorener Idealzustand, den Diktatur und Republiken nicht mehr einholen konnten. Darin stand er etwa seinem Zeitgenossen Heimito von Doderer, dessen 100. Geburtstag 1995 gefeiert wurde, in nichts nach. Die literarische Bedeutung Doderers hat er indessen nie erreicht.

Der traditionsreiche Wiener Zsolnay Verlag ist 1996 in die Hände des Hanser Verlags übergegangen. Das Unternehmen, dem einst so mancher Vertreter der Klassischen Moderne verpflichtet war, drohte seit Jahren in Bedeutungslosigkeit zu versinken. Hanser setzt jetzt neue Akzente. Und man wird es dem neuen Zsolnay Verlag nicht übelnehmen können, wenn er sein Programmprofil in bewährter Weise zwischen Tradition und Innovation ausrichtet. Mit der Wiederentdeckung von Leo Perutz, vorangetrieben durch den Hamburger Germanisten Hans Harald Müller, war es dem Verlag in den 80er Jahren gelungen, die Anerkennung der Fachwelt wie auch die Begeisterung einer Vielzahl von interessierten Lesern zu erringen. Mit Lernet-Holenia, so scheint mir, ließe sich an solche Erfolge anknüpfen.

Mit Die Standarte liegt denn auch das erste Buch einer Neuauflage vor, die uns in der nächsten Zeit jährlich zwei Titel des vergessenen Autors bescheren wird. Unter den Werken Lernet-Holenias sind ohne Zweifel echte Ladenhüter, etwa Der wahre Werther (verfügbar in einer Ausgabe von 1959) und unbegreiflicherweise auch der wichtige Roman Mars im Widder (bei Zsolnay zuletzt 1976 gedruckt). Und es macht mit Sicherheit keinen guten Eindruck auf das kauffreudige Lesepublikum, wenn im Gesamtprogramm gleich neben der Standarte solche Titel als sichtbare Altlasten mit den dazugehörigen Erscheinungsdaten auftauchen. Ich hätte den Büchern von Alexander Lernet-Holenia, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, eine weniger vorbelastete Aufnahme gewünscht.

Die Neugestaltung der Standarte wehrt sich freilich dagegen, mit noch vorhandenen Überresten der 50er Jahre in einem Atemzug genannt zu werden: Mit einer Serienfotografie von Eadweard Muybridge auf dem Schutzumschlag, einer gediegenen Druck-, Papier- und Bindequalität läßt das Buch - außer einem Satzfehler im Motto des Romans - handwerklich nichts zu wünschen übrig. Gerade aber diese perfekte Ausstattung, die dem heutigen Standard von Neuerscheinungen dieser Preislage entspricht und dem Roman von 1934 seine Patina nehmen muß, macht deutlich, was hier fehlt: jene Distanz nämlich, die man beim Lesen historischer Texte überwindet und sich zugleich stets bewußt machen muß. Ihre Kenntlichmachung kann von einer Ausgabe, die es unternimmt, einen Autor neu ins Bewußtsein heutiger Leser zu bringen, verlangt und erwartet werden. Ein Nachwort z. B., das die historische Bedingtheit des Romans deutlich machen und zugleich begründen könnte, warum heute eine Neuauflage wünschenswert ist, hätte diese Aufgabe erfüllen können.

Daß sich die Lektüre der Standarte, ebenso wie die Erneuerung des (Forschungs-)Interesses an Lernet-Holenia, lohnt, darüber besteht für mich kein Zweifel. Sie beschert ihrem Leser ein spannendes und unterhaltsames Vergnügen, das obendrein die Geschichte des Untergangs von Österreich-Ungarn erfahrbar macht. Das ist nicht nur für jene Spezialisten interessant, die derzeit über die Möglichkeiten einer österreichischen Literaturgeschichtsschreibung nachdenken, sondern für alle, die sich auf eine Geschichtsvermittlung durch Abenteuer, Erotik und Phantastik einlassen mögen. Auf die nächste „Neuerscheinung“ von Lernet-Holenia, Ein Traum in Rot, dürfen wir gespannt sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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