Eine Rezension von Bernd Heimberger

Zeit für Zimt

Thomas Böhme: Geruch des Gastes
Thom Verlag Leipzig, Leipzig 1996, 105 S.

Bekommt Thomas Böhme den nächsten Anna-Seghers-Preis? Die Spekulation ist statthaft. Nicht, weil er der Welt ein „Werk“ lieferte. Werke sind selten, sagte die Seghers. Werke, meinte sie auch, sind Fiktionen. Erzählen ist Erfinden!

Erfinder reinsten Geblüts ist Thomas Böhme. Von der Lyrik, mit der er seine literarische Laufbahn begann, will und kann er die Finger nicht lassen. (Jüngst erschien in der Edition Galrev der Gedichtband Heimkehr der Schwimmer.) Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb die Literaturkritik, die auf den Leipziger Lyriker eingepegelt ist, den Erzähler bisher eher links liegen ließ. Vielleicht sind die Bücher des Erzählers dem „Werk“ näher als die des Lyrikers. Mit Sicherheit ist Böhme kein so einfacher Erzähler wie Anna Seghers. Storys, Sätze, Strukturen sind böhmesche Er-Findungen, die einander bedingen. Nicht die Story erfindet sich Stil und Struktur. Stil und Struktur formen die Story. Von einer linearen Geschichte zu sprechen ist mehr als ein Risiko. Es ist der Irrtum. Den Roman Geruch des Gastes auf die eine Geschichte zu reduzieren hieße, ihn in die Reihe traditioneller Romane zu stellen. Geruch des Gastes ist das so wenig wie der vor Jahresfrist veröffentlichte, von der Öffentlichkeit bisher ungenügend wahrgenommene „Latente Roman“ Vom Fleisch verwilderte Flecken. Das dritte, nun publizierte Prosabuch Böhmes ist am konsequentesten in Bestimmung und Beherrschung der vom Erzähler entwickelten literarischen Strukturen. Nichts reizt Böhme mehr als Realität. Nichts ist für Böhme reizloser als die Wiederkehr der Wirklichkeit in der Literatur. In seiner Literatur ist mehr Realität, als in der Realität an Wahrhaftigkeit sein kann. Der Schriftsteller gibt sich gern der Selbst-Ver-Führung hin. Sie anzusehen ist weder blamabel noch peinlich. Selbst-Ver-Führung hat Thomas Mann in Der Tod in Venedig auf die Spitze getrieben. Der Spitze strebt Thomas Böhme entgegen. Geruch des Gastes hat etwas vom Flair, das Tod in Venedig hat.

Ein Reisender trifft einen Jungen. Ferenc Lehmbruck, „Labormaus“ und „Doktor der Lichte“, trifft Tango/Tanga/Tongue, wie er den Jungen nennt. Er ist der Sohn seiner Wirtin. Die „Sehnsucht nach Süden ... Eine deutsche Krankheit“ treibt den „nach Oscar Wilde riechenden Gast“ in eine Krisen-Kriegs-Region. Was der ratlose, rastlose Reisende dort will? „Die Rolle des schirmenden Knabenlenkers ist nirgends vorgesehen.“ Wie sie auch für Gustav Aschenbach nicht vorgesehen war. Also müssen auch die Koffer nicht ausgepackt werden, in denen die Utensilien der Lehmbruck-Biographie wohlsortiert sind. Ferenc L. ist ein Gefangener seiner Biographie, seines Hauses, seines Gartens. Die Reise in den Süden, der „schmollmundige Junge“ sind Visionen seiner Phantasie. Die Reise im Kopf übertrifft alles, was reale Reisen bieten könnten. Thomas Böhme hat sich und seinem Ferenc Lehmbruck eine Reise der tatsächlich unbegrenzten Möglichkeiten ermöglicht.

Eine schwelgerische, schwärmerische, schweigsame, schwierige, schmerzliche Reise. Die wäre in allem lichter, leichter, lockerer, wäre Böhme ein Ironiker vom Schlage Thomas Mann. Eine andere „deutsche Krankheit“, das Grübeln um des Grübelns willen, steckt im Gemüt des Ferenc Lehmbruck, sprich des Schriftstellers, so daß die herbeigesehnte Sinnesfreude immer wieder verflacht. Statt Pfeffer, Pfeffer, Pfeffer verbreitet Böhme Geruch und Geschmack von Zimt, Zimt, Zimt. - „Sie lieben doch Zimt?“ - „Zimtmusik“ und „Zärtlichkeit“ rhythmisieren und metaphorisieren die Prosa, zu der sich der Autor verführt. Selbstverliebt - selbstvergessen? Auch das? Auch das ist sein Recht. Literarisierte Literatur ist Luxus. Böhme leistet sich den Luxus, indem er etwas leistet. Ein Werk wurde nicht. Eher Pachtwork. Geruch des Gastes ist Patchwork-Prosa. Sie bestimmt Rahmen und Rhythmus des Romans. Sprache schafft Struktur. Jedes Stück, das heißt jede Sequenz, ist ein Stück, das für sich gilt. Alle Stücke stehen für das Ganze, das der Eleganz des Erotischen zu neuem Glanz verhelfen möchte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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