Eine Rezension von Helmut Hirsch

Wie ein Reisender Wurzeln schlägt

Paul Theroux: An den Gestaden des Mittelmeeres
Aus dem Amerikanischen von Erica Ruetz und Cornelia
Groethuysen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1996, 637 S.

Es gibt Bücher, die schon auf der ersten Seite verraten, daß es sich lohnt, die Lektüre fortzusetzen. Der Amerikaner Paul Theroux, er hat bereits mehrere Reisebücher und Romane veröffentlicht, beginnt sein neues Reisebuch An den Gestaden des Mittelmeeres so: „In unserer westlichen Zivilisation hört man oft sagen, daß sich Touristen nicht viel von Affen unterscheiden. Doch auf dem Felsen von Gibraltar, einer der Säulen des Herkules, sah ich sowohl Touristen als auch Affen und konnte feststellen, daß sie sich durchaus unterscheiden.“ Dann folgt eine Geschichte der Meerenge von Gibraltar, einschließlich der erfolgreichen und der erfolglosen Seeabenteuer der Mittelmeervölker. Und ausgiebig beobachtet Theroux des weiteren Affen und Touristen. Auch er bestätigt, was viele längst wissen, Affen gehen mit ihren Kindern menschlicher um als Menschen mit ihren Kindern. Die Szene könnte auch erdacht worden sein. Für den Autor Paul Theroux, dessen Vorfahren in der Toskana lebten, ist diese Szene Gelegenheit für die Frage, warum er bislang als Reisender das Mittelmeer gemieden hat. Und es sind natürlich nur Vorurteile oder mangelnde Gelegenheiten. Doch nun wurde alles ganz anders. Theroux reiste lange, ausgiebig, intensiv an den Gestaden des Mittelmeeres. In Frage kamen für ihn nur Land- oder Wasserstraßen, kein Flugzeug sollte die Entfernungen in kurzer Zeit überwinden, immer wollte er die Nähe dieser Welt, die Berührung mit Landschaft, Geschichte und Leuten wahrnehmen.

Theroux genießt das Glück des Reisenden, der über genügend Zeit verfügt. Und er hat nie bestimmte Orte fest im Sinn, weil er an den „Küsten des Lichts“ sein, sehen und erleben will. Eine Maxime seines Reisens lautet: „Alle Orte, egal wo oder wie, sind einen Besuch wert. Weniger überlaufene Gegenden, in denen die Menschen noch immer ihr normales, herkömmliches Leben leben, scheinen mir allerdings am ehesten lohnend, weil sie verständlich und lesbar sind - sie verleihen mir deshalb immer Auftrieb.“

Ablaufendes, unmittelbares Leben oder gelebtes Leben, das interessiert Paul Theroux, und so kann es kaum schiefgehen, nie langweilig werden, wenn man diesen reiselustigen Autor begleitet. Auch der kulturhistorisch eingestimmte Reisende sollte sich von ihm nicht abschrecken lassen, weil Gräber und Kirchen nicht ins Programm kommen (einige klassische Stätten sind ja doch nicht ausgenommen). Er liebt Menschen, ihre wechselvolle Geschichte und südliche Kulturen, jagt auch gern Orten nach, an denen Dichter einst lebten. Aber nie wird es zum Kult, immer trifft er auf Lebende, die ihm Vergangenes als Gegenwärtiges, Gegenwärtiges als Zukünftiges deuten. In Spanien begegnet er Stierkampffanatikern und kommt in anregende Gespräche über das Innenleben aller Länder. Zuerst wird der prospektive Satz ausgesprochen: „Dieses Land ist nicht ein Land, sondern viele Länder“; Idee für ein neues Buch, Stoff für Debatten. Und es zeigt sich nicht nur gesprächsweise, daß es doch fast überall so ist, erst viele Länder ergeben ein Land im heutigen Sinne.

Während es die Badelustigen ans Meer zieht, sie kennen immer nur das eine Ziel, kennt Theroux eher Orte der Stille, um darüber nachzusinnen, wer er selbst ist. Ein grüblerischer Reisender auch ist er, der Unterschied, den er zwischen dem Reisenden und dem Touristen macht, zeigt den unablässigen Selbstsucher unterwegs: „Der Reisende ist vage, der Tourist ist sich sicher.“ Theroux ist sich nur sicher, daß er nie genau zu bestimmen vermag, was er an den vielen Orten „sucht“, denn ihm dienen die Orte und Länder vor allem zur Klärung seiner Befindlichkeit.

Begierig nimmt er auch die Bücher der Literaten auf, sozusagen Quellen von Erlebnissen, zugleich erlebt er die realen Bilder und setzt „Bilder“ und Erfahrungen anderer hinzu. Eine vielstimmige Projektion entsteht. Mitunter mag es erscheinen, als entzöge sich Paul Theroux stillschweigend auch den Orten des Mittelmeerraums. Einmal sieht er sich an einem Ort, der ihn das „Gefühl“, das ihn zum Reisen treibt, ahnen läßt. Aber er spielt es leicht ironisch ins scheinbar Unfaßbare, wenn er notiert: „Noch niemand hat den Ort beschrieben, an dem ich gerade angekommen bin.“ Er zögert, das zu tun, was naheliegend wäre, flüchtet vor einer Festlegung. Denn er fürchtete auch den Sog, der von Orten, wo es dem Reisenden gar zu gut gefällt, ausgeht. Wurzeln schlagen, das möchte er nicht, und kann es doch nicht verhindern. Es ist vielleicht grotesk, aber während der Reisende unterwegs in der Eisenbahn, im Bus oder auf der Fähre sitzt, verbindet er äußere und innere Bilder zu einem geheimen Wurzelgeflecht seiner Erlebnisse. Er sieht die Mittelmeerküste verbaut oder verschmutzt, er sieht sie in den Farben blau oder weiß, er sieht sie bei Regen oder Sturm: „Der Sturm verlieh dem Meer eine Symmetrie, die ich nie an ihm gesehen hatte.“ Und er sieht, wie weit dieses „kleine“ Meer reicht, bis an die Küsten Syriens, die Berge Korsikas, Israel, entlang der italienischen Riviera, immer wieder Städte und Stationen dazwischen, auch kleine Orte voller Ruhe außerhalb des Touristenstroms auf Mallorca. In Dubrovnik begegnet ihm die Kehrseite des guten Reiselebens. Eine zerstörte Stadt. Der wahnwitzige Krieg gab diesem Seebad mit der wunderbaren Altstadt „etwas Gespenstisches, weil sie absolut leer war. Etwa so muß es in Venedig nach der Pest ausgesehen haben.“

Nicht immer kann man Lob oder Tadel von Paul Theroux nachvollziehen. In Italien findet er das Essen durchweg „großartig“, schätzt er den liebevollen Umgang der Italiener mit Kindern, findet nur geistreiche und lebendige Zeitungen. In Rimini spätestens muß er seine Ansichten korrigieren. Griechenland-Reisende sind erstaunt über solche Sätze: „Die Griechen erschienen mir fremdenfeindlicher als die Franzosen, noch unfreundlicher und irrationaler, sie brüsten sich mit ihrer ruhmreichen Vergangenheit, haben aber ein sehr selektives Kurzzeitgedächtnis.“ Besser, viel besser wird es in den vielen Gesprächen, die der Autor auf seinen Wegen ums Mittelmeer geführt hat.

Und auch hier gilt: Wer viel reist, sieht vieles, zugleich übersieht er noch mehr. Dennoch: es ist ein Buch, das ausgiebig von der Neugier und Selbsterkenntnis seines Autors erzählt. Gern stellt er gewagte „Verbindungen her“, aber er besteht darauf: „Es geht um mein Mittelmeer.“

Auf der letzten Seite zieht Paul Theroux seine Bilanz. Das ist keine blaue Erfüllung, vielmehr das Eingeständnis einer Verwurzelung, die noch vieles hervorbringen wird: „Diese Reise war anders als alle, die ich bisher unternommen hatte, weil das Erlebnis nicht an dem Punkt endete, an dem die Reise selber zu Ende ging. Meine Reisen hatten mich oft kuriert. Ich war von China und Peru geheilt, weil ich dort gewesen war, ich war von Fidschi und Sri Lanka kuriert, von Kenia und Pakistan, und, nach vielen Jahren, von England. Nach dieser Fahrt hatte ich noch nicht genug vom Mittelmeer, und ich wußte, ich würde wiederkommen, so wie man wieder in ein Museum geht, um Bilder zu betrachten (oder aus dem Fenster zu sehen) und nachzudenken.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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