Eine Rezension von Rainer Jahn

Eine poetische Mittlerin zwischen Asien und Amerika

Amy Tan: Die hundert verborgenen Sinne
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Sabine Lohmann.
Wilhelm Goldmann Verlag, München 1995, 448 S.

Amy Tan (45), die kalifornische Chinesin (ihre Eltern waren kurz vor ihrer Geburt in Amerika eingewandert), ist eine begnadete Schriftstellerin. Ihre Romane Töchter des Himmels, Die Frau des Feuergottes und die Mondfrau wurden in zwanzig Sprachen übersetzt, und ihre Fans in aller Welt haben mit Spannung auf dieses neue Werk gewartet. Es hat sich gelohnt. Meiner Ansicht nach übertrifft es alle Erwartungen. Selten stößt man auf einen Roman, der von der ersten bis zur letzten Zeile so ganz Literatur ist, tief realistisch auch dort, wo er transzendentale Vorgänge behandelt, die Realität und Überwirklichkeit irritierend verschmelzen lassen. Das Buch ist warmherzig und zutiefst menschlich in der Gesinnung, unheimlich präzis in der Beobachtung und Wiedergabe auch der kleinsten Vorgänge, spannend auch dort, wo jede äußere Dramatik fehlt. Amy Tan wechselt fast übergangslos von nebensächlichen Alltagsfragen zu den letzten existentiellen Problemen. Und alles wird überglänzt von einer inneren Heiterkeit, die einer unbeschönigenden, aber letztlich optimistischen Weltsicht entspricht.

Amy Tan, in Oakland (Kalifornien) geboren, hat schon immer ihrer chinesischen Herkunft nachgespürt. Ihre poetischen Bücher suchen zwischen der Neuen Welt und Asien, zwischen dem unterschiedlichen Denken, Handeln und Traditionsbewußtsein verständnisheischend zu vermitteln. Dieser Aufgabe folgt sie auch mit diesem neuen Roman. Dessen Heldin Olivia (38), Fotoreporterin, ist Tochter einer Amerikanerin und eines Chinesen. Sie steckt in einer Ehekrise und rekapituliert ihr Leben. Der Vater starb, als sie vier Jahre alt war. Auf dem Totenbett gestand er seiner Frau, daß er schon vor seiner Einwanderung einmal verheiratet war, und er beschwor sie, das dabei gezeugte Kind aus China zu sich zu nehmen. So kommt Kwan, 12 Jahre älter als Olivia, aus Changmian, einem winzigen und abgelegenen Bergdorf, nach San Francisco. Sie nimmt sich der jüngeren Stiefschwester sofort mit grenzenloser Zuneigung an, umsorgt und erzieht sie selbstlos und aufopfernd, mit einer blinden Liebe, die nicht erwidert wird. Olivia stößt sie eher verächtlich weg, schämt sich hochnäsig sogar ein bißchen der unamerikanischen Älteren, die ihr ständig mit chinesischen Weisheiten in den Ohren liegt, und nimmt die rätselhaften Gutenachtgeschichten von den Toten, mit denen sie Umgang habe, und einem zweiten Leben nicht ernst. 200 Seiten benötigt die Autorin für diese Reflexionen, aber es ist keine einzige zu viel. Sie vermitteln den Eindruck einer wundervollen Plauderei, die man mit seiner besten Freundin bei einem Glas Wein hat.


Dann überredet Kwan (50) die jüngere Schwester, einen Reportageauftrag anzunehmen, der sie gemeinsam mit Ehemann Simon, von dem Olivia inzwischen getrennt lebt, nach China führt. Kwan erbietet sich, beide als Dolmetscherin zu begleiten. Es wird eine aufregende Reise in die Vergangenheit und eine atemberaubende Begegnung mit einem China der Gegenwart, einem Lande zwischen Tradition und Zivilisation, Subtilität und Brutalität, Riten und Überlebenskunst. Im Lichte der vielfältigen Begegnungen, überraschenden Erfahrungen und turbulenten Erlebnisse in Changmian erhalten die Weisheiten, Erinnerungen und Geistergeschichten Kwans - vormals als Spinnereien und Marotten abgetan - zunehmend realistischen Gehalt. Olivia entdeckt in ihnen allmählich eine geheime Botschaft, die Umwelt nicht nur vom Standpunkt der Logik, sondern auch mit dem Herzen, eben mit den hundert verborgenen Sinnen ihrer Seele wahrzunehmen. Sie gewinnt einen versöhnlicheren Blick auf ihre Ehe, lernt aber vor allem Kwan verstehen, schätzen und lieben. Die Kluft, die die Schwestern über mehr als drei Jahrzehnte hinweg getrennt hat, wird überwunden, aber für Kwan ist es zu spät. Sie opfert sich der Jüngeren auf.

Amy Tan will uns lehren, „daß die Wahrheit nicht in der Logik liegt, sondern in der Hoffnung, sowohl in der vergangenen Hoffnung als auch in der, die sich auf Zukünftiges richtet. Ich glaube, die Hoffnung hält immer wieder Überraschungen bereit. Sie kann sich gegen noch so schlechte Chancen, gegen alle Widersprüche behaupten, und erst recht gegen jedwede skeptische Vernunft, die nur Tatsachen gelten läßt.“ Und da es ihr gegeben ist, ihre Absichten ungeschmälert in Dichtung umzusetzen, legt sie ein auch angesichts tragischer Ereignisse fröhliches Buch vor, ein optimistisches Buch, das sich tief in das Leben versenkt, um uns für das Leben zu kräftigen.

Ich hatte keine Gelegenheit, Original und Übersetzung zu vergleichen, aber ich finde die deutsche Textfassung des Romans phantastisch. Ich habe das Gefühl, daß Sabine Lohmann die Intentionen der Autorin gut verstanden und einfühlsam und souverän umgesetzt hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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