Eine Rezension von Bernhard Meyer

„Die Einheit des Menschengeschlechts“

Georges Passelecq/Bernard Suchecky: Die unterschlagene Enzyklika
Der Vatikan und die Verfolgung der Juden.
Carl Hanser, München 1997, 322 S.

Die Autoren greifen ein Nichtereignis von 1938/39 auf. Es gab keine Enzyklika über die Verfolgung der Juden, also konnte sie auch nicht unterschlagen werden. Vielmehr existierte ein Entwurf, eigentlich nur ein Text, den Papst Pius XI. (1857-1939) für sein Vorhaben hätte benutzen können. Keine der 300 seit 1745 verfaßten päpstlichen Sendschreiben in Form einer Enzyklika hätte soviel Menschenleben retten können wie die „unterschlagene Enzyklika“. Die Angelegenheit ist verworren, bis heute nicht aufgeklärt. Stellt man die jüngste abweisende Haltung hochgestellter katholischer Amtsinhaber in Rechnung, so ist die Vermutung nicht zu hoch gegriffen, daß der gesamte Vorgang mindestens vorerst, wenn nicht sogar auf ewig, dem „Schweigen der Archive“ überlassen bleiben wird. Aber der Reihe nach.

Während des Pontifikats von Pius XI., seit 1922 römischer Papst, etablierten sich in Europa faschistische Regimes. Besonders in Deutschland gerieten die katholische Kirche und ihre Gläubigen durch nazistische Gesetze in verschiedenartige Zwänge und Konflikte. Vor allem die Folgen der Rassenideologie, die das Blut im Gegensatz zum Menschen- und Weltschöpfer Gott als das die Menschen einigende übergeordnete Band bestimmten, brachten Turbulenzen. Die Gleichheit der Menschen vor Gott erfuhr durch die faschistische Behauptung verschiedenartiger Rassen eine unübersehbare Erschütterung. Der Papst sah Grundfesten des Katholizismus angegriffen und mußte befürchten, daß der Rassebegriff „die Einheit des Menschengeschlechts“ zersetze. Selbsterhaltung war angesagt. War rassenbiologisches Denken bisher über Jahre hinweg weitgehend nur die Diskussion unter Naturwissenschaftlern und Intellektuellen, erfolgte nunmehr in den 30er Jahren die staatlich sanktionierte Umsetzung in großem Stil. Besonders augenscheinlich die Verfolgung der Juden in Hitlerdeutschland unter rassebiologischen Kautelen. Der Vatikan sah sich herausgefordert, mußte deutlicher als in bisherigen Verlautbarungen Stellung beziehen und dabei Grundsätzliches zum Verhältnis des katholischen Christentums und des Judentums verkünden, das durch den theologischen Antijudaismus seit Jahrhunderten belastet war. So trug sich Pius XI. seit Anfang 1938 mit dem Gedanken, von den Kanzeln eine Enzyklika zur „Einheit des Menschengeschlechts“ als Gegenpart zur Rassenlehre verkünden zu lassen.

Nun beginnt die spannende, widerspruchsvolle, unaufgeklärte Geschichte von Auftragserteilung und Abfassung sowie dem späteren Schicksal des Papiers, die von Passelecq und Suchecky akribisch nachgezeichnet wird. Den Auftrag vergab der Papst am 22. Juni 1938 dem amerikanischen Jesuitenpater John LaFarge (1880-1963) während eines Gesprächs in seinem Sommersitz Castel Gandolfo. Der unverhofft Auserkorene zog in Paris zwei Mitbrüder, den Deutschen Gustav Gundlach (1892-1963) und den Franzosen Gustave Desbuquois (1869-1959), zur Mitarbeit heran. Nach drei Monaten lieferte LaFarge ein Manuskript im Vatikan ab. Der schon länger Herzkranke und an Diabetes leidende 81jährige Papst, inzwischen schwerkrank geworden und mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich, der Reichskristallnacht in Deutschland und Mussolinis Rassengesetzen direkt vor der Haustür konfrontiert, starb am 10. Februar 1939. Die Enzyklika hat er nicht unterzeichnet, während sein Nachfolger Pius XII. zum Thema Judenverfolgung und Rassismus schwieg.

Die Belgier Georges Passelecq, ein Benediktinerpater, und Bernard Suchecky, ein jüdischer Historiker, nahmen Mitte der 80er Jahre erneut die Spur der päpstlichen Absicht von 1938/39 auf, um Hintergründe für das Schicksal der „unterschlagenen Enzyklika“ herauszufinden. Vor allem bewegte sie, warum die Enzyklika nicht das Licht der Welt erblickte. Zu diesem Zweck analysierten die Autoren anhand von Veröffentlichungen und Erklärungen Pius XI. überzeugend dessen umsichtigen Blick auf die politische, ökumenische und geistige Atmosphäre seines Pontifikats. Ihre Schlußfolgerung lautet deshalb, daß der Papst wohl eine Enzyklika wollte, das Vorhaben allerdings in einen verhängnisvollen Strudel gegenläufiger und widersprüchlicher Entwicklungen geriet. Unklarheiten bestehen bereits darüber, welchen Auftrag Pius XI. eigentlich LaFarge erteilte, da keine schriftlichen Unterlagen auffindbar sind. Zum anderen erfolgte die Auftragserteilung durch Pius XI. ohne direkte Einbeziehung des einflußreichen Ordensgenerals der Jesuiten, Pater Wladimir Ledóchowski. Der Pole im Vatikan sah in der kommunistischen Bedrohung durch die Sowjetunion die größere Gefahr gegenüber dem Hitlerschen Rassismus in Deutschland. Hier werden innere Querelen und Gegensätzlichkeiten des nach außen immer geschlossen wirkenden Vatikans beleuchtet, der von nahe besehen „eine Welt für sich“ sei (S. 17). Hat Ledóchowski letztlich die Enzyklika „unterschlagen“, indem er eine Verschleppungstaktik bis zum Tod des Papstes befolgte? Die Autoren hegen allerdings nicht beweisbare Zweifel, ob Pius XI. der Entwurf überhaupt vorgelegt wurde. Wenn ja, dann erhebt sich die Frage des Zeitpunktes und die nach der verbliebenen physischen Kraft des Papstes, sich noch in seinen letzten Lebenswochen mit dem Manuskript zu befassen. Unklar auch, ob Nachfolger Pius XII. von den Absichten seines Vorgängers überhaupt wußte. Jedenfalls war er von Amts wegen nicht verpflichtet, dessen Vorhaben weiterzuführen. Möglicherweise war er es, so eine weitere Vermutung der Autoren, der den Entwurf von der Bildfläche verschwinden ließ.

Im Buch von Passelecq und Suchecky wird der über 100 Druckseiten lange Text des Entwurfs, aus dem die Enzyklika „Humani generis unitas“ („Die Einheit des Menschengeschlechts“) entstehen sollte, veröffentlicht. Es handelt sich um die gekürzte französische Fassung aus dem Nachlaß von LaFarge, die einzige, die weltweit nach intensivem Suchen zugänglich war. Ginge es nach dem alleinigen Willen der katholischen Nachlaßverwalter, wäre wohl auch sie unter Verschluß geraten. Offen muß bleiben, ob sie mit den anderen Fassungen übereinstimmt. Anfragen der Autoren, das Manuskript aus dem vatikanischen Archiv oder das der deutschen Fassung von Gundlach aus dem Archiv der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach verwenden zu können, wurden ausweichend und hinhaltend, letztlich ohne Entscheidung von einer zur anderen Kircheninstanz geschoben.

Eine Enzyklika nach dem nun vorgelegten Text hätte ad hoc nicht den Rassismus, die Juden und ihre Verfolgung, nicht die Anprangerung des faschistischen Deutschen Reiches zum Thema gehabt. Nein, es wäre eine Besinnung auf Werte und Postulate der katholischen Kirche herausgekommen. Dem Rassismus wäre eine klare Absage erteilt worden, denn in der Person Christi ist alles eins, Rassismus und Christentum unvereinbar. Die Heilige Schrift mit ihrer „Einheit der menschlichen Rasse“ wäre als unabänderlich bestätigt worden (S. 229), ebenso wie die „Existenz eines natürlichen, vom Schöpfer geschriebenen Moralgesetzes, das alle Menschen in ihrem Herzen tragen“ (S. 253). Für alle Menschen gibt es „einen einzigen Gott“, der alle Menschen zu seinen Jüngern mache. Weitgehend bereits der Formulierungsvorschlag, daß es den Katholiken nicht erlaubt sei, „dem Rassismus gegenüber still zu bleiben“ (S. 255). Unmißverständlich die Verurteilung, natürliche jüdische Rechte zu verletzen. Beim Lesen des Entwurfs gilt es stets daran zu denken, daß der Papst diesen Text nicht sanktioniert hat, daß er letztlich die Meinung von LaFarge und seinen Mitautoren darstellt. Natürlich klingt auch bei Passelecq und Suchecky die nicht unerhebliche Frage an, was eine verabschiedete Enzyklika in Europa, vor allem in Hitler-Deutschland, hätte bewirken können. War die Shoah vermeidbar? Die Autoren formulieren natürlich zurückhaltend, aber mit dem Tenor, daß die katholische Weltgemeinschaft sich wahrscheinlich nicht zu einem Kreuzzug gegen den Faschismus formiert hätte. Dies bestätigt in seinem Vorwort Émile Poulat, der keinen „Aufschrei des Gewissens“ vermutet hätte. (S. 25)

Georges Passelecq und Bernard Suchecky präsentieren ihre Geschichte - wie mir scheint - ohne Sensationshascherei. Sie legen eine noch nicht zum endgültigen Abschluß gelangte Untersuchung über eine nicht zur Vollendung gelangte Enzyklika vor (S. 12). Verwiesen wird auf Vorgänge, auf die sie sich bei ihren Recherchen stützen konnten. Dazu gehört besonders die Artikelserie in der amerikanischen Zeitschrift „National Catholic Reporter“ von 1972 und die 1973 eingereichte Dissertation von Johannes Schwarte über Gundlach und die „Fast-Enzyklika“. Merkwürdig erscheint jedoch, warum Passelecq und Suchecky ihren Erkenntnisfortschritt gegenüber den Untersuchungen von Schwarte nicht kennzeichnen, ja warum sie den Kontakt zu Schwarte mieden. Wünschenswert wäre es gewesen, ausführlicher über die zeitgenössische Wirkung der 72er Publikation und die Dissertation Schwartes informiert zu werden. Leider unterbleibt auch eine Auseinandersetzung mit den Aussagen der seinerzeitigen Publikationen. Gemessen an der eigenen Vorgabe, die „Einstellung der katholischen Welt gegenüber den Juden und dem Antisemitismus am Vorabend des Zweiten Weltkrieges“ (S. 123) zu erkunden, gebührt den Autoren Anerkennung, an der Haltung Pius XI. die Absichten und die Sorgen um die Erhaltung des katholischen Einflusses aufzuhellen. Das alles liest sich spannend und kurzweilig. Für die heutige Generation wird mit der Publikation ein Vorgang im unmittelbaren Vorfeld des Zweiten Weltkrieges zugänglich, der sonst nur Insidern vorbehalten ist. Es bleiben Fragen offen, aber diese können nur durch die Archive der katholischen Kirche beantwortet werden. Ob es eines Tages doch eine Vollendung gibt?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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