Eine Rezension von Hans-Rainer John

Von Kindesmißbrauch und Satanismus

Ulla Fröhling: Vater unser in der Hölle
Ein Tatsachenbericht.
Kallmeyer'sche Verlagsbuchhandlung, Seelze-Velber 1996, 384 S.

Früher ist das Thema Kindesmißbrauch kaum jemals in der Öffentlichkeit aufgetaucht - es war schlichtweg tabu. Dann kam der Fall Marc Dutroux, und die Zeitungen quollen über. Für Julie und Eefie, für Melissa Russo, An Marchal und Loubna Benaissa sind Hunderttausende in Brüssel auf die Straße gegangen, trauernd und aufgestört, weinend und empört, und die haben eine Regierung das Fürchten gelehrt. Warum? Die Kinder erwiesen sich als Opfer nachlässiger Ermittlungen, Mittäter oder Helfershelfer werden in führenden Kreisen von Politik, Wirtschaft und Justiz vermutet, und die Liste noch vermißter Kinder ist erschreckend lang.

Belgische Zustände? Keineswegs, das Problem ist weltweit. In der BRD prüft die Soko Weser-Ems im Zusammenhang mit der Ermordung der zehnjährigen Kim Kerkow in Varel durch den Buchhändler Rolf Diesterweg, der dem Satanskult nahestand, mehr als zwanzig Fälle von Kindern, die zwischen 1993 und 1996 vermißt, verschleppt, mißbraucht oder getötet wurden. Mehrere Gerichtsprozesse störten die Öffentlichkeit auf. Sechs weitere Strafverfahren sind in Vorbereitung. Es geht offenbar nicht um Einzelfälle. Plötzlich ist man für das Thema sensibilisiert.

In dieser Situation kommt das Buch Vater unser in der Hölle gerade recht. Es ist ein furchtbares, ein grausames Buch, das schier Unglaubliches mitteilt, Horrorgeschichten unvorstellbaren Ausmaßes. Und zugleich ist es ein unerhört sensibles Buch, einfühlsam in der Darstellung, sachlich, zurückhaltend und überzeugend in der Mitteilung, weit weg vom Anstrich des Sensationellen, Lauten, Schrillen. Es ist gut lesbar und fast romanhaft geschrieben, aber mit ständigem, wenn auch unauffälligem Bezug zu Wissenschaft und Forschung.

„Ein Tatsachenbericht“ ist der Untertitel. Berichtet wird nach vierjährigen Recherchen und auf Grundlage von Briefen, Fotos, Dokumenten, ärztlichen Berichten, Röntgenaufnahmen und Presseartikeln über die 35jährige Angela Lenz, geborene Bahr, verheiratet, zwei Kinder, die sich nach vielen Jahren der Therapeutin Nina Temberg anvertraut hat. Der Weg dahin war lang und steinig, denn Angela ist eine multiple Persönlichkeit: Sie ist ein Mensch, der auf Grund extremer Gewalt in früher Kindheit, Gewalt, die langanhaltend und ausweglos war, mehrere Persönlichkeiten zur Aufgabenteilung geschaffen hat, die - oft ohne gegenseitige Kenntnis - in ihrem Körper koexistieren (ein Selbsterhaltungssystem der Seele, eine posttraumatische Streßreaktion).

Angela war seit dem zweiten Lebensjahr von ihrem Vater, einem Bankdirektor, mißbraucht, später Freunden und Verwandten zur Verfügung gestellt, schließlich in ein Kinderbordell eingeführt und beim Umgang mit älteren Herren fotografiert und gefilmt worden. Sie wurde vom Vater blutig geprügelt, brutal gefesselt, in einen Schrank oder eine Kiste gesperrt, mit Elektroschocks gefoltert und damit zur Mitwirkung und zum Schweigen gezwungen. Durch Hypnose und Psychoterror programmiert, wurde sie später für Drogenschmuggel und den Vertrieb von Pornovideos benutzt und schließlich in eine Satanssekte eingeführt. Die gutbürgerliche Außenseite der Familie gehobenen Standes schirmte gegen alle Anfangsverdachte ab; das war nicht schwer in einer Zeit, da das Thema Kindesmißbrauch nicht öffentlicher Diskussionsgegenstand war.

Im Rahmen von mystischen Kulthandlungen wurde Angela vom „Hohepriester“ und anderen Führungskräften der Sekte schwer gefoltert, einem furchtbaren Anti-Ekel-Programm unterworfen und schließlich auf dem Altar mehrfach vergewaltigt. Als Dienerin Satans mußte sie unter Drogen schließlich auch bei der rituellen Opferung anderer Kinder mitwirken, sie mußte schlagen und töten und wurde dabei gefilmt. Die handlungsbestimmenden „Priester“ in ihren schwarzen Kutten entstammten besten Kreisen, denn der Satanskult bedarf zu seiner ungestörten Existenz bestimmter Spezialisten, Juristen, Mediziner und Finanzmanager zum Beispiel, und die haben unter Umständen auch die eigenen Kinder einzubringen. Ob Angelas Vater unter die „Priester“ aufgenommen wurde, weil er Bankdirektor war (und als solcher gebraucht wurde), oder ob er auf die Position eines Bankdirektors gehievt wurde, weil er ein treuer Satansjünger war, konnte nicht geklärt werden.

Es ist schwer vorstellbar, daß solche und ähnliche Vorgänge in unserem Land und zu dieser Zeit unbemerkt mitten unter uns passieren. Am 10. März teilte die Autorin aber in der ARD-Sendung „Fakt“ mit, daß sie ihr Buch an viele Frauenhäuser und Kinderschutzorganisationen mit der Bitte um Stellungnahme versandt habe. Binnen kurzem habe sie 120 Rückäußerungen erhalten, in denen 350 ähnliche Fälle geschildert worden seien. Mit wievielen muß man dann wohl insgesamt in unserem Lande rechnen? In den USA wird geschätzt, daß sich zehn Prozent der Männer sexuell von Kindern stimulieren lassen. Die Zahl umreißt das umfangreiche Gefahrenpotential. Es ist ein Verdienst des Buches, sehr eindrucksvoll, sehr nachdrücklich und sehr wirkungsvoll auf diesen Zustand hinzuweisen. Ganz und gar unbefriedigend und zutiefst beunruhigend aber ist, daß auch in diesem minutiös recherchierten Fall - man kennt die Täter, weiß, wo sie leben, ermittelte die Tatorte und alle Umstände - weder die Schuldigen verhaftet und bestraft noch das Opfer, die Therapeutin und die Autorin ausreichend gegen jeden Zugriff oder „Unfall“ gesichert werden konnten - außer durch einen Deal mit den Tätern, der sogar von der Polizei akzeptiert wird: Angela wird niemanden anzeigen.

Verdienstvoll, weil noch über den Problemkreis Kindesmißbrauch hinausgehend, scheint mir, daß Ulla Fröhling (freie Journalistin, lebt in Hamburg, schreibt für „Die Zeit“, „Die Woche“, „Süddeutsche“, „Emma“, „Brigitte“; Journalistinnen-Preis 1992/93) dem Phänomen der Multiplen Persönlichkeitsstörung (MPS) so breiten Raum gewidmet und es so anschaulich und begreifbar dargestellt hat. Es geht um eine Persönlichkeitsspaltung („Dissoziative Identitätsstörung“), die Stevenson bereits 1886 mit seinem Seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde beschrieben hat. Sie wird heute in der Mind-Control-Forschung zur Manipulation des Bewußtseins und Unterbewußtseins genutzt. Die Autorin zieht eine interessante Linie von den medizinischen Forschungsprogrammen in den Nazi-Konzentrationslagern über das MKULTRA-Projekt der CIA bis zur Moon-Sekte und der Scientology, und das ist wahrlich aktuell.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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