Eine Rezension von Bernhard Meyer

Emanzipationsfaktor Pille

Bernard Asbell: Die Pille und wie sie die Welt veränderte
Verlag Antje Kunstmann, München 1996, 448 S.

Im vergangenen Jahr wurde sie 40 Jahre alt, „Die Pille“. Merkwürdig, unter dieser allgemeinen Bezeichnung wurde sie weltweit bekannt. Generationen von Frauen und Männern sehnten eine biologisch sichere Möglichkeit zur Schwangerschaftsverhütung herbei. Ihre Verbreitung Anfang der 60er Jahre wurde von vielen bejubelt, von ebenso vielen aus moralischen, ethischen und religiösen Gründen mit äußerster Skepsis aufgenommen. Überlieferte Glaubenssätze und Traditionen gerieten aus den Fugen - die Pille stellte alles in Frage und forderte neue Antworten. Von nun an wurden Sex und Kinderwunsch endgültig zwei unterschiedliche Kategorien. Nachhaltig beeinflußte die Pille das Sexualverhalten rund um den Erdball. Das Selbstbewußtsein der Frau erklomm eine höhere Dimension; die Emanzipationsbewegung erfuhr einen nachhaltigen Schub. Endlich konnte die Frau allein über ihre Schwangerschaft entscheiden. Das war wichtiger als Stimmen, die da meinten, nun sei die Frau dem Mann völlig ausgeliefert. Die römische Kurie wurde in ihren Glaubensgrundsätzen erschüttert wie „noch nie in ihrer Geschichte“, so Papst Paul VI. in einem Interview 1965. Es gilt als sicher, daß mehr Menschen die Pille schluckten als jedes andere Medikament. Sie gilt als das erste Medikament, welches ausschließlich sozialen und nicht therapeutischen Zwecken dient. Und dennoch konnte sich das vorjährige Jubiläum in der Medienvielfalt keinen besonderen Platz erobern. Die Pille ist eben da, alltäglicher Gebrauchsgegenstand wie vieles andere auch, während das Woher und Wie weiter als Angelegenheit von Experten gilt.

Diesem eingefahrenen Denktrott setzt Bernard Asbell sein interessantes und aufrüttelndes Buch entgegen. Wir erleben das facettenreiche, widersprüchliche Werden der Pille sowohl als ein Stück aus der Geschichte der Naturwissenschaften wie gleichzeitig als Prozeß aufbrechenden Moralverhaltens. Gerade die Bewältigung dieses geistigen und schriftstellerischen Anspruchs macht den besonderen Wert des sich eng an Tatsachen haltenden, romanhaft geschriebenen Buches aus. Eindrucksvolle Schilderungen immer wieder, so aus dem weiten Vorfeld über die elende soziale Lage der Frauen und ihrer Familien wegen der wie eine Naturgewalt über sie hereinbrechenden häufigen Schwangerschaften. Dies unter dem Schleier einer gesellschaftlich tabuisierten Sexualität und dem Postulat der Religionen, Kinder immer als Segen des jeweiligen Gottes anzusehen. Wir begegnen dem frauenbefreienden Wollen der Krankenschwester Margaret Sanger, der „Mutter der Pille“, und der geldgebenden Mitstreiterin Katharine Dexter McCormick. Dabei rückt wieder ins Bewußtsein, wie die Pille eigentlich gegen den herrschenden Willen und damit ohne einen staatlichen Dollar Zuschuß das Licht der Welt erblickte. Der Autor präsentiert sympathisch die Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und Institutionen wie Carl Djerassi, Gregory Pinkus, Russel Marker, John Rock und Min-Chueh Chang - klangvolle Namen aus der Pillengeschichte. Mit Pinkus führt der Autor einen Wissenschaftlertyp vor, wie er besonders in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts häufig geworden ist: Der Wissenschaftler als „Produktmacher“, Kreativität und Kommerzialität vereint zu neuartiger Innovation.

Die naturwissenschaftliche Entstehungsgeschichte der Pille ließe sich wie anderswo übersichtlicher darstellen, denn die mehrdimensionalen Handlungsstränge im Detail und in steter Kopplung mit den gesellschaftlichen Aspekten für den Leser klar zu halten, ist schwierig. Aber auf diese Klarheit kommt es dem Autor gemäß der Struktur seines Schreibens weniger an, vielmehr geht es ihm um die Vielfalt und den Filz von Sein und Moral bei den Betroffenen und den Machern, in Politik und katholischer Kirche. Hier kann er sich ausbreiten und die Probleme ausloten und sie immer wieder an nahegehenden Ereignissen und Personen festmachen. So die anrührende Geschichte der Ärztin Dr. Anna Biezanek aus England, die sich im Geflecht ihres tiefen katholischen Glaubens, ihres medizinisch-biologischen Wissens und einer beträchtlichen Kinderschar verfängt und sich schließlich nach langen Zwistigkeiten aus menschlicher Vernunft gegen die Familie, gegen die Kirche entscheiden muß und 1963 unter unsäglichen Anfeindungen als Katholikin die erste Verhütungsklinik eröffnet. (S. 258)

War es für die ideellen Wegbereiter der Pille schon schwer, Gehör zu finden und sich durchzusetzen, so wirbelte sie mit ihrem Erscheinen scheinbar festgefügte und tradierte Lebens- und Moralvorstellungen, Wert- und Moralgefüge heftig durcheinander. Asbell spart da nichts aus, nennt die Probleme beim Namen, denn er ist von ihrer Notwendigkeit für ein bewußtes, geplantes und vernünftiges Leben aller Menschen überzeugt. Von dieser durchaus nicht selbstverständlichen, aber vom Autor souverän beherrschten und angewandten Position aus geht er sicher auf die Probleme zu. Da wäre zunächst die Politik, der amerikanische Wahlkampf von 1960 mit dem Sieger John F. Kennedy, in den die amtliche Bestätigung der Pille im Mai des gleichen Jahres hineinplatzt. Wie verhält sich ein Präsidentschaftskandidat angesichts reichlich katholischer Wähler und der noch nicht publizierten, aber bereits zu ahnenden Auffassung des Papstes? (S. 271 ff.) Noch 1964 existieren in 16 amerikanischen Bundesstaaten Gesetze über das Verkaufsverbot von empfängnisverhütenden Mitteln jeglicher Art - die Pille lebt schon seit vier Jahren. Oder Pharmaunternehmen, die durch das neue Medikament profitieren (u. a. S. 214); die Börse mit ihren Aktienkursen, die damals Schwankungen unterliegen, als die Veröffentlichung der Papstmeinung in Form der Enzyklika „Humane vitae“ anstand (S. 302).

Überhaupt gehört zu den unverkennbaren Stärken des Buchs die Offenlegung des vatikanischen Innenlebens seit der Geburt der Pille. Der Autor verfolgt einprägsam, wie es dieser „kleinen lästigen Pille“ gelang, „den Frieden und die geistige Disziplin der katholischen Hierarchie zu stören“ (S. 298). So kann das jahrelange Ringen der Kurie um die Enzyklika nachvollzogen werden, die dann allgemeine Enttäuschung bei vielen Gläubigen auslöste. Trefflich gelingt dem Autor, den jedermann sichtbaren Widerspruch zwischen Zölibatären und Verheirateten vorzuführen. Das ist die Kluft von abgeschiedenem und wirklichem Leben der Menschen, ihrer aus gutwilligem Glauben entstandenen Pein, eheliche Liebe und Fortpflanzung in eine kirchengewollte Reihenfolge zu bringen. Derweil regelt auch der Alltag notgedrungen das Verhalten gläubiger Frauen gegenüber dem kirchlichen Bann, die mehr und mehr die Einnahme der Pille nicht beichten, weil sie dies nicht als Sünde betrachten können.

Mehr als eine Abrundung und Ergänzung das Eingehen auf Vorzüge und Risiken der Pille (S. 359ff) und die heutige Forschung zur Vervollkommnung und die Vorstöße in neue Dimensionen, wie sie sich mit dem Medikament RU 486, in der Bundesrepublik übrigens nicht zugelassen, andeuten. Die Wunsch-Töchter der Pillen-Mütter der ersten Generation fordern heute die „Männer-Pille“. Äußerst interessant die Gedanken des Autors zur Frage, ob die Pille ihren „sozialen Auftrag“ hinsichtlich der Weltbevölkerung erfüllt habe (S. 380). Eine knifflige Angelegenheit für ihn angesichts ihres stetigen Wachstums. Eine andere Tatsache ist aber auch, daß überall hohes Einkommen und hohe Bildung die Kinderzahl pro Familie drastisch begrenzt. Inzwischen ist das Zeitalter der Biointervention angebrochen, die jedem auch unbequeme Entscheidungen abverlangen wird. Der Autor entläßt den Leser mit der Gewißheit, daß seine Persönlichkeitsrechte und daraus resultierende Entscheidungsfreiheiten neu zu überdenken sind, was zu erhöhter Verantwortung gegenüber sich selbst und dem Partner führen wird. Auf jeden Fall hat die Pille, so ist dem Autor resümierend beizupflichten, „eine neue Epoche der Herrschaft über uns selbst und unseren Körper eröffnet“ (S. 416). Und, so sollte hinzugefügt werden, es werden weitere derartige Möglichkeiten kommen. Bald schon.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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