Eine Rezension von Klaus Ziermann

Ein großes Lesevergnügen

Stephan Hermlin: Lektüre
Über Autoren, Bücher, Leser.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1997, 219 S.

Es bereitet viel Vergnügen, Stephan Hermlins wiederaufgelegten und leicht veränderten Band Lektüre - Über Autoren, Bücher, Leser nach knapp einem Vierteljahrhundert erneut lesen zu können - zumal in einer Zeit, da der Dichter kurz vor seinem Tode zum wiederholten Male massiven persönlichen Anfeindungen ausgesetzt war. „,Lektüre‘ ist der schöne Glücksfall der Vorstellung von Literatur durch einen Schriftsteller. In den 60er Jahren hat Stephan Hermlin im Deutschlandsender regelmäßig - bis die Sendung zensiert wurde - Bücher vorgestellt. Die Sendung wurde von vielen in der DDR gehört: sie war ein seltenes Beispiel für Mut, Literaturkenntnis, Würde“, wirbt der Verlag für sein Produkt.

Allerdings war das Buch offensichtlich schon zum Zeitpunkt seines Ersterscheinens umstritten. Der Berliner Aufbau-Verlag - Hausverlag des Kulturbundes der DDR - brachte 1973 in Ostberlin die vollständige Ausgabe; der Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main sah sich jedoch 1974 in seiner Ausgabe für die Bundesrepublik Deutschland veranlaßt, einige bezeichnende Beiträge einfach wegzulassen: „Braune Presse“, „Literatur und Dichtung im Dritten Reich“ und „Zwei Reisende“ - ein interessanter Vergleich der Sowjetunion-Reiseberichte von Rudolf Hagelstange und Wolfgang Koeppen. Warum wohl?

Die Neuausgabe enthält insgesamt 38 Beiträge. Einige Interviews, inzwischen andernorts erschienen, wurden durch neue Texte über Pablo Neruda, Paul Eluard, Georg Trakl und Erich Arendt ersetzt. Selbstverständlich handeln die meisten Beiträge von Dichtern und Schriftstellern, die Stephan Hermlin besonders am Herz lagen: Attila Jószef, Georg Heym, Franz Fühmann, Rudolf Leonhard, Ambrose Bierce, Miguel Hernández, Else Lasker-Schüler, Louis Aragon, Karl Kraus, Antonio Machado, Pablo Neruda und andere. An deren Würdigungen in der DDR - sei es durch Übersetzung ihrer Verse, Vorworte und Nachworte zu ihren Buchveröffentlichungen oder andere öffentliche Würdigungen ihres Schaffens - war der langjährige Sekretär der Akademie der Künste zumeist unmittelbar beteiligt.

Originell sind auch die Besprechungen „Mozarts Briefe“ (1968), „Chauteaubriand“ (1969) und „Thomas Mann und die Sympathie“ (1965) - Texte, in denen es seinerzeit um mehr als bloße literatur- oder kunstgeschichtliche Einschätzungen ging; immerhin hatte kein Geringerer als Karl Marx vorgegeben, wie Chauteaubriand in der DDR einzuschätzen sei: als Reaktionär.

Andere Beiträge aus Hermlins Vortrags- und Aufsatzsammlung haben großen zeitgeschichtlichen Wert, weil sie ihrem Verfasser damals politisches Rückgrat und integre Haltung abverlangten. „Lektüre schafft unverhofft Nähe, wo Entfernung regiert, sie vermittelt nicht nur Erhellungen, sondern auch notwendige Dunkelheiten. Sie verschafft einem auch Begegnungen, die für den Leser nicht immer angenehmer Art sind“, vermerkte Stephan Hermlin in einem vom Frühjahr 1997 datierten „Vorwort“. Die Texte „Bechers gedenkend“ (1969), „Platonow“ (1970) oder „Beim Lesen Majakowskis“ (1967) erforderten nicht erst im nachhinein, sondern bereits zum Zeitpunkt ihres Entstehens Weitsicht und Mut. Der „Abschied von Peter Huchel“ (1981) gehört in diese Reihe und liest sich wie eine persönlich tief empfundene Aufarbeitung jüngerer deutscher Geschichte - mit ihren Konflikten und Widersprüchen, aber auch mit subjektivem Bedauern: „auf unbegreifliche Weise war eine Freundschaft zerbrochen, die fest gegründet schien.“

Höhepunkte sind für mich jedoch die beiden Beiträge über Johannes Bobrowski. Die „Grabrede für Bobrowski“, am 7. September 1965 gehalten, liest sich auf nicht einmal einer Druckseite wie ein Gedicht in Prosa für einen großen Dichter. So etwas konnte eben nur ein Poet mit der Gabe Stephan Hermlins zu Bildhaftigkeit und sprachlichem Verdichten leisten. Die Abhandlung „Bobrowskis Selbstzeugnisse“ enthält neben der Würdigung literarischer Erfahrungen des Dichters und offenen Solidaritätsbekundungen Hermlins für sein Auftreten als gesamtdeutscher Autor auf der letzten Seite eine gekonnte Polemik gegen dogmatische Kulturpolitik, die sich gewaschen hat. Kein Geringerer als der langjährige Kulturverantwortliche im Politbüro des ZK der SED, Alfred Kurella, wird auf das Korn genommen und entlarvt. Heutzutage würde das als „Widerstand“ gefeiert. Stephan Hermlin hat als verantwortungsbewußter Kommunist und - wie er sich einmal programmatisch bezeichnete - „spätbürgerlicher Schriftsteller“ derlei bereits lange zuvor einfach praktiziert. Allein schon darum ist Lektüre sehr aufschlußreich: Zeigt es doch einen Stephan Hermlin, wie er leibte und lebte, in Aktion.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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