Eine Rezension von Björn Berg

Geruch der Geschichte

Lothar Dittmer/Detlef Siegfried (Hrsg.): Ost-West-Geschichten
Schüler schreiben über Deutschland.
Mit einem Geleitwort von Roman Herzog.
Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1996, 354 S.

Dieser Geruch! Um Gottes willen, kein weiteres Wort über Bitterfeld. Bitte! Durch Bitterfeld sind wir mit zugehaltener Nase. Wir sind durch! Auch in Oranienburg herrscht wieder Ordnung. Aus O. kamen jene S-Bahn-Züge, die Fisch-Züge genannt wurden. Für das intensive, penetrante Parfüm sorgten die Ausdünstungen einer chemischen Fabrik. Apropos Fisch! Wer mit dem Zuge in Warnemünde ankam, hatte bereits auf dem Bahnsteig den markanten See-Fisch-Geruch in der Nase. Und, wer über Land fuhr und sich einem „Rinderoffenstall“ oder einer „Milchviehanlage“ näherte, schnupperte schon von fern die Gülle. Welcher Geruch war typisch für die DDR? DDR-typisch? Der „Geruch von Braunkohle ... der für die ganze DDR typisch war“. So weiß das Wiebke Luft. Jahrgang 1977, hat sie genug DDR gerochen zu DDR-Zeiten. Während der Besuche wirklicher Verwandter in Burg bei Magdeburg. 1994/95 Schülerin der Hamburger Jahnschule, schrieb Wiebke auf, was es mit den „Auswirkungen der Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands auf meine Familie“ auf sich hatte. So typisch wie der Braunkohlengeruch „in diesem Staat“ war für die Schülerin das „entbehrungsreiche Leben in Unfreiheit“. War auch das typisch DDR? Oder war es typisch DDR, daß sich DDR-Bürger in der „Unfreiheit“ ihre Freiheit ermöglichten und deshalb im konsumbewegten Leben der „Freiheit“ Nöte der Unfreiheit wegen haben? Über die Freiheit in der Unfreiheit, die Unfreiheit in der Freiheit müßte noch manches Wort in Deutschland gewechselt werden. Auch von Wiebke Luft und ihren Altersgenossen. In Ost wie West. Zwecks des Verständigens und Verstehens. Zwischen Ost und West. Um die Ost-West-Geschichten zu fassen zu bekommen. Auf die wer wartet?

Wer die 19 „Ost-West-Geschichten“ in die Hand bekommt, die zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte eingereicht und aus nahezu tausend gefiltert wurden, dem werden überwiegend Ost-Geschichten vorgesetzt, deren Spuren überwiegend West-Deutsche sicherten. Da haben wir den Salat! Häufig waren die ost-westlichen Geschichten an sich deutsch-deutsche Geschichten. Im Laufe der in vierzig Jahren entwickelten deutschen und deutschen Historie wurde das in Freiburg im Breisgau schneller vergessen als im sächsischen Freiberg. Im getrennten Deutschland gab es genug gemeinsame Geschichten, die deutsche Geschichte sind. Diese Gewißheit gehört zur differenzierten, differenzierenden Betrachtung. Das beachtet, sind die Beiträge der Schüler - meist - weniger daneben als manches publizistische Denken über Deutschland. Daß dennoch zu vieles für typisch erklärt wird, hat auch damit zu tun, daß die Gymnasiasten der Mittneunziger mit reichlich ost-west-deutschen Vor-Bildern belastet sind. Deutschland beginnt jetzt. Im Herbst 1996 wurde Deutschland eingeschult. Sache der jetzt Sechsjährigen wird es sein, als Deutsche über Deutschland zu sprechen. In einem Dutzend Jahren. Oder später. Ohne Kenntnis der Ost-West-Geschichten? Geruchlos?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite