Eine Rezension von Herbert Mayer

Ein deutscher Lebenslauf

Michael F. Scholz: Bauernopfer der deutschen Frage
Der Kommunist Kurt Vieweg im Dschungel der Geheimdienste.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1997, 288 S.

Im März 1957 bot Herbert Wehner einem Flüchtling aus der DDR in seiner Wohnung Zuflucht, so berichten deutsche Zeitungen und Zeitschriften im Frühjahr 1997 unter Berufung auf den Vorabdruck eines neuen Buches des früheren Spionage-Chefs der DDR, Markus Wolf. Der Name des Flüchtlings, zu dem Wehner seit Kriegsende Kontakt hatte und den er zur Rückkehr in die DDR bewegt haben soll: Kurt Vieweg.

Erstmals liegt mit dieser Publikation von M. Scholz eine Biographie Kurt Viewegs vor, der einst zur SED-Spitze gehörte, dann aber in der DDR jahrzehntelang totgeschwiegen und in der Alt-Bundesrepublik vergessen war. Der Leser erhält dabei Einblicke in interne Vorgänge in der SED-Führung, in die Landwirtschaftspolitik der SED und DDR und in geheime Kontakte in die Bundesrepublik. Scholz' Untersuchung unterscheidet sich wohltuend von oberflächlichen, Sensation erheischenden Veröffentlichungen der letzten Jahre. Sie zieht ihre Solidität aus einer seriösen Quellenbasis und der fundierten Einordnung in die zeitgeschichtlichen Abläufe. Hauptbasis bildeten die Untersuchungsprotokolle der Zentralen Parteikontrollkommission der SED aus den fünfziger Jahren. Hier erlangte der Autor an Hand der Originalmaterialien wesentliche Informationen über den gesamten Lebensweg Viewegs. Weitere Säulen seiner Darstellung bilden Akten des früheren Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Gestapo-Akten, Materialien der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe der DDR, Unterlagen aus skandinavischen Archiven und des Archivs der Universität Greifswald.

Vieweg wurde am 29. Oktober 1911 in Göttingen als Sohn eines Bankangestellten geboren. Er erhielt eine Ausbildung an einer Landwirtschaftsschule und war dann auch in der Landwirtschaft tätig. In dieser Zeit hatte er sich der Wandervogelbewegung und Jugendbünden, dann der Hitlerjugend angeschlossen. 1932 trat er zum kommunistischen Jugendverband über und wurde Mitglied der KPD. Nach Hitlers Machtantritt muß er bereits im Herbst 1933 in die Emigration. Im Exil, in Dänemark und Schweden, gelang es dem strebsamen Mann, Agrarwissenschaften zu studieren, avanciert er schnell zum Spezialisten für Agrarfragen in der KPD-Emigration. 1944 legte Vieweg das agrarpolitische Programm „Die Bauern und die kommende demokratische Republik“ vor, in dem er Anregungen aus der skandinavischen Sozialdemokratie verarbeitete.

Nach Kriegsende kam er im Juli 1946 in die sowjetischen Besatzungszone zurück. Er machte sich als Fachmann für Landwirtschaftsfragen unentbehrlich, wurde hauptamtlicher Funktionär der Bauernorganisation Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB), seit Ende 1947 als deren Generalsekretär. Sein Aufstieg führte ihn in die Schaltzentralen von Partei und Staat: 1950 wurde er Mitglied des ZK und Sekretär des Zentralkomitees der SED, zuständig für Agrarfragen. Der Kurs einflußreicher sowjetischer Kreise auf Neutralität und Einheit Deutschlands bot ihm Möglichkeiten, gegenüber der oft rigorosen Linie der SED-Führung eigene agrarpolitische Vorstellungen auszuloten. Insbesondere seine Überlegungen über eine differenzierte, die konkrete Situation berücksichtigende Landwirtschaftspolitik (vor allem gegenüber den Mittel- und Großbauern) geraten - wie Scholz nachweist - in Widerspruch zur herrschenden Linie. Für seine pragmatischen, an der Wiedervereinigung Deutschlands orientierten Aktivitäten nutzte er die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten als Verantwortlicher für den Westapparat der VdgB und im Gesamtdeutschen Arbeitskreis der Land- und Forstwirtschaft. Vieweg unterhielt enge Kontakte nach Westdeutschland, auch zu konservativen Kreisen, ein Bereich, der sich eng mit konspirativer Arbeit verknüpfte und ihn in die Sphäre geheimdienstlicher Apparate führte. In politischen Fragen war er Anton Ackermann verantwortlich, im nachrichtendienstlichen Bereich waren G. Heidenreich und M. Wolf seine Ansprechpartner.

Doch Vieweg geriet in Ermittlungen der ZPKK. Er blieb im machtpolitischen Kampf allmählich auf der Strecke, wird, so die Formulierung und Interpretation des Autors, „zum Bauernopfer der Deutschlandpolitik“ (u. a. S. 229). Sein Fall ist, gemessen an anderen Beispielen, sozial gut abgefedert. Er wurde 1954 Direktor (und dann Professor) am Institut für Agrarökonomik an der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften.

Scholz zeigt, wie auch für Vieweg der XX. Parteitag der KPdSU eine Zäsur bildete. Er sah neue Chancen für eine sozialistische Landwirtschaftspolitik, entwickelte ein Reformprogramm. (Sein Entwurf „Neues Agrarprogramm für die Entwicklung der Landwirtschaft beim Aufbau des Sozialismus in der DDR“ ist als Anhang abgedruckt.) In ihm plädierte er für ein langsameres Tempo der Kollektivierung, für vielgestaltigere und für die Bauern annehmbare Formen des Übergangs zum Sozialismus. Angesichts nachfolgender Ereignisse (Ungarn und Polen im Herbst 1956, das Konzept einer deutschen Konföderation 1956/57, Suche nach Revisionisten in der SED) wagte er sich mit seinen innenpolitischen Konsequenzen wie auch in seinen außenpolitischen Aspekten zu weit. Forderungen, sich von seinem Programm zu distanzieren, beeindruckten ihn nicht, erst Anfang Januar 1957 lenkte er ein. Zu spät. Im Februar leitete die ZPKK ein Parteiverfahren ein. Der starke Druck ließ Vieweg bald darauf um seine Ablösung „bitten“. Am 26. März 1957 schloß ihn das Politbüro aus der SED aus. Die Begründung: Revisionismus. Typisch für die bestehenden Strukturen, daß nun alle Verdienste vergessen waren.

Vieweg sah nur den Ausweg, in die Bundesrepublik zu fliehen. Das war insofern einmalig, als kein anderer hochrangiger Funktionär aus der DDR in den Westen floh. Vieweg kehrte aber nun auch noch freiwillig in die DDR zurück. Warum, kann Scholz auch nicht eindeutig erklären. Er vermutet ein Versprechen von Markus Wolf. Wieweit die Einwirkung Herbert Wehners im Spiel war, wird vielleicht in naher Zukunft erhellt oder nie mehr geklärt werden können. Die Zusicherung eines Beauftragten des MfS, er werde bei Rückkehr in die DDR keine Schwierigkeiten haben, wurde jedenfalls gebrochen. Nach zermürbenden Verhören in der Untersuchungshaft durch Staatssicherheitsoffiziere wurde Vieweg im November 1959 zu einer 12jährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Er wurde dennoch vorzeitig im Dezember 1964 aus der Haft entlassen. Er startete sogar zu einer neuen, zu einer zweiten wissenschaftlichen Karriere an der Universität Greifswald, an deren Nordischen Institut. 1971 wurde er erneut zum Professor berufen.

Erstaunlich (oder vielmehr logische Konsequenz seines Lebensentwurfs), auch nach seiner Entlassung arbeitete er weiter für den DDR-Geheimdienst, bot sich dem Ministerium für Staatssicherheit für eine Mitarbeit selbst an. Für das MfS stellte Vieweg Kontakte in die Bundesrepublik und nach Skandinavien her, erarbeitete wissenschaftliche Expertisen. Immer wieder taucht dabei der Name Herbert Wehner auf. Ob Vieweg nur aufgrund der Hilfe des MfS seine Stellung im „normalen“ bürgerlichen Leben zurückerhielt (vgl. S. 231), mag dahingestellt sein, obwohl Scholz dafür viele Fakten bringt. Zu sehr sah und nannte sich Vieweg, wie er in einem zitierten Bericht betonte, „mit einem gewissen Recht Revolutionär“ (S. 215). Selbst als er 1974 in Pension ging, war er weiter mit Gutachten und Forschungsaufträgen für das MfS aktiv.

Insgesamt ist die Publikation eine wertvolle Arbeit, die nicht nur ein detailliertes Bild von Viewegs Lebensweg gibt, sondern auch das gesellschaftliche und politische Umfeld ausleuchtet und somit einen Beitrag zur Geschichtschreibung über die DDR und die deutsch-deutschen Beziehungen liefert. Ein weiterer Vorzug ist, daß agierende Personen mit einem kurzen Werdegang vorgestellt werden. Der wissenschaftliche Apparat ist übersichtlich und enthält das Notwendige, führt wie auch die Auswahlbibliographie an Zusatzinformationen heran. Leider unterliefen einige Detailfehler oder fragliche Wertungen (z. B. galt Kopenhagen keineswegs Anfang der 30er Jahre als „das wichtigste revolutionäre Zentrum außerhalb Moskaus“ [S. 24]; die Transformationsphase der SED zur Partei neuen Typs wurde nicht erst durch die Parteikonferenz 1949 eingeleitet [S. 79]; der Einfluß von O. Grotewohl ist wohl überschätzt, wenn ihm [S. 83] zugeschrieben wird, im SED-Parteivorstand 1949 eine Direktive durchgesetzt zu haben, die nicht von der Spaltung Deutschlands als Tatsache ausging und nicht unmittelbar den Übergang zum Sozialismus vollzog).

Nach der Lektüre stellt sich die Frage: Warum ließ sich Vieweg als „Bauer“ im politischen Schachspiel „benutzen und opfern“ (so auch Hermann Weber im Vorwort, S. 7). Dies, wie von Weber, allein darauf zurückzuführen, daß der kommunistische Funktionärstyp, wie ihn der Stalinismus erzeugt habe, dem „einmal das Rückgrat gebrochen“ war, geopfert werden konnte, ohne den Bruch des Betroffenen mit dem Kommunismus zu befürchten, dürfte zu kurzschlüssig sein. Oder führten Vieweg nicht vornehmlich, was schwerlich zu ermessen sein dürfte, die Ideale, die Hoffnung und die Erwartung auf eine sozialistische Gesellschaft? Vieweg verstarb am 2. Dezember 1976 in Greifswald, erst am 27. Dezember 1990 wurde das Strafurteil gegen ihn aufgehoben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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