Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Wahnideen und Katzenjammer

Michael Schmitz: Wendestreß
Die psychosozialen Kosten der deutschen Einheit.
Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1995, 255 S.

Das Buch von Michael Schmitz ist ein Versuch, die realsozialistische Gesellschaft speziell der DDR, aber nicht nur diese, und bestimmte Folgen ihres Zusammenbruchs mit Hilfe psychologischer Theorien zu erfassen, ja zu erklären. Es ist zugleich eine Zusammenstellung von soziologischen und medizinischen Erkenntnissen, Beobachtungen, auch Mutmaßungen über die Post-DDR-Gesellschaft in Ostdeutschland. Ergänzt wird dies, wenn auch nicht durchgängig und auf vergleichbarer Zeitebene, mit Seitenblicken auf andere Länder, insbesondere Rußland. Es handelt sich um einen Beitrag zur Aufarbeitung dessen, was in der DDR mental ausgerichtet worden ist, und zur Beleuchtung dessen, was die schnelle Einheit in den Köpfen großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung angerichtet hat, einschließlich gravierender gesundheitlicher Schäden eines nicht quantifizierten Teils der Einwohner.

Es werden vier Kapitel geboten: 1. Prägungen des totalitären Regimes (einschließlich Stasi als psychotherapeutische Institution), 2. Der vormundschaftliche Staat, 3. Wendestreß (einschließlich Wende-Krankheiten und Wende-Trinker), 4. Die neue Weltunordnung. Schmitz wäre gut beraten gewesen, hätte er sich auf das tragfähige Thema Wendestreß beschränkt und es ausgebaut. So kommt er erst in der zweiten Hälfte des Buches zur Sache. In den beiden vorhergehenden Kapiteln kann er nicht mit berufeneren, durch wissenschaftliche Publikationen ausgewiesenen Autoren einschlägiger Veröffentlichungen konkurrieren. Der Exkurs in Marx' theoretische Gefilde ebenso wie in Zu- und Umstände der DDR sollen offenbar auf die nachfolgend beschriebenen Einheitsfolgen einstimmen und Hintergrund dafür bieten, wirken jedoch nur vorangestellt, ohne nachvollziehbare Verbindung zur Hauptsache, dem angeblichen Wendestreß (ein Streß, das sei zur Ehre der Wende in der DDR von 1989 gesagt, der erst nach Währungsunion und Einheit begann).

Bedenklich ist die Methode des Herangehens. Der Autor, Fernsehjournalist und ausgebildeter Psychologe, folgt nach eigenem Bekunden „Selbst-psychologischen Theorien zur Klärung politischer Prozesse“, die ihm während eines einjährigen Studienaufenthaltes an der Universität Chicago nahegebracht wurden. Hier könnte man, überspitzt formuliert, an den Versuch denken, das Verhalten des letzten deutschen Kaisers sowie den Niedergang seiner und seinesgleichen Herrschaft mit analytischen Ansätzen des Sigmund Freud zu erhellen.

Schmitz kommt zur Einstufung des Marxismus-Leninismus als „wahnähnliche Idee“ und meint: „Wahnideen, so darf also spekuliert werden, repräsentieren die Sehnsucht nach Gewißheit und seelischem Zusammenhalt. Sie sind der Versuch, unzureichende seelische Stabilität zu kompensieren und mit der Bedrohung durch die eigene Individualität fertig zu werden.“ Dabei läßt er - gewollt oder unabsichtlich - außer acht, daß diese Definition ebenso auf die Anhänger beliebiger Religionsgemeinschaften angewendet werden kann, und vergißt eine Empfehlung des von ihm zitierten Psychiaters Bleuler: „Man darf die Irrtümlichkeit einer wahnverdächtigen Idee nicht an der eigenen weltanschaulichen Überzeugung messen.“

Eine besondere Polemik richtet sich gegen den von Günter Gaus 1983 in Wo Deutschland liegt geprägten Begriff der Nischengesellschaft. Er biete eine „harmonisierende Sicht“ und „verharmlost das totalitäre Regime“; die „staatlich eingerichteten ,Nischen‘“ seien vielmehr „die (nur scheinbar) entpolitisierten Räume eines hochpolitischen Überwachungsstaates“ gewesen. Mit solch eifernder Ansicht, ebenso wie mit der These „Arbeit als kollektiver Selbstbetrug“, festigt der Autor den Eindruck, er habe den Schauplatz seiner Beobachtungen vornehmlich aus der Ferne und einschlägigen Publikationen kennengelernt, aus denen er Zitate stimmig aneinanderreiht.

Dem steht die Tatsache nur scheinbar entgegen, daß Schmitz vom Sommer 1988 bis Oktober 1990 Korrespondent des ZDF in Ostberlin war. Ehe der Wendestreß ernsthaft begann, wurde er nach Wien versetzt (zu einer Zeit, als in seinem Sender „die publizistische Pflicht“ galt, „die deutsche Einheit zu fördern und Bedenken beiseite zu schieben. Die Zuschauer sollten durch Probleme nicht irritiert werden“, wie Schmitz feinfühlig formuliert). 1992 dann Aufenthalt in den USA, danach wieder Wien. In den USA hat er das Buch zu schreiben begonnen, „mit Abstand und Diskurs“. Vielleicht war da zuviel Abstand, zu wenig Kenntnis der Lebensumstände in der DDR, eine Kleinigkeit zu wenig Herz für die Deutschen (Ost), und eine Prise zu wenig Humor, der einem Günter Gaus den Blick doch wohl eher geschärft als getrübt hat.

Die undifferenzierte, an der Oberfläche bleibende Untersuchung des Wendestreß, der ja eigentlich purer Nachwendestreß ist, lebt von Zitaten. Wenn die eigene Meinung des Autors geboten wird, ist für den Katzenjammer Ost der 90er Jahre weitestgehend die DDR-Obrigkeit verantwortlich, unter der „massenhaft Hilflosigkeit“ gezüchtet und gelernt worden sei. „Die Prägungen des alten Regimes gehen so tief, daß sie den Einstellungswandel blockieren.“

Aber blockiert waren die Deutschen (Ost) schon immer: „Störungen der Produktion nahmen Betriebsleiter und Arbeiter gleichmütig hin, ohne besondere Initiativen zu entwickeln, um den Mißstand abzustellen.“ Soll dies eine ernstzunehmende Feststellung, die Wahrheit über die DDR sein? Sollte die DDR vier Jahrzehnte etwa auf diese Weise und natürlich durch puren Zwang existiert haben?

Michael Schmitz dringt noch zu einer weiteren merkwürdigen Erkenntnis vor: „Die gelernten Illusionen überdauerten die politische Wende. Aus ihnen (nicht etwa aus westdeutscher publizistischer und politischer Propaganda, KHA) nährte sich die Vorstellung, in kurzer Zeit ein zweites deutsches Wirtschaftswunder inszenieren zu können: Der Selbst-Betrug hatte überlebt und die Anfälligkeit für neuen Betrug bewahrt. Das wahltaktische (tatsächlich illusorische) Versprechen des Bundeskanzlers, die Vereinigung mit dem Westen werde allen im Osten rasche wirtschaftliche Besserung bescheren, traf auf gläubige Seelen.“ Unwillkürlich erinnert man sich an die ältere Strafrechtslehre, in der es eine makabre Theorie gibt, wonach nicht der Mörder, sondern der Ermordete schuldig sei. Aber warum nur hat der Kanzler auch im Westen, in der informierten Gesellschaft, so viele gläubige Seelen gefunden?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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