Eine Rezension von Tina Kreuzmann

Im Visier der Stasi

Wolfgang Stock/Jürgen Aretz: Die vergessenen Opfer der DDR
13 erschütternde Berichte mit Original-Stasi-Akten.
Bastei-Verlag, Bergisch Gladbach 1997, 253 S.

Ja, es stimmt: Menschen sind vergeßlich. Dies um so mehr, wenn sie sich in Lebenslagen befinden, die bedrohlich sind, angstmachend, ausweglos. So geht es vielen (nicht allen) Bürgern im Osten Deutschlands. Arbeitslosigkeit, steigende Lebenskosten, Sozialabbau - darüber vergißt so mancher, daß es Schlimmeres gab.

Aber „der Prozeß der deutschen Einheit ist noch keineswegs am Ziel angelangt. Wer dabei nur auf die großen Probleme sieht, die noch gelöst werden müssen, sollte immer bedenken: Das sind die Folgen der SED-Diktatur, die nun von uns allen gemeinsam aufgearbeitet werden müssen“ - so mahnt Rainer Eppelmann im Vorwort zu einem Büchlein, das an „Die vergessenen Opfer der DDR“ erinnern soll. Geschrieben wurde das Buch von zwei Autoren, deren Herkunft (alte Bundesländer) Kompetenz und Engagement garantieren: Dr. Jürgen Aretz (geb. 1946), Tätigkeit im Bereich Menschenrechte/Entwicklungspolitik bei der Deutschen Bischofskonferenz, später im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, heute Leiter des Arbeitsstabes neue Länder im Bundeskanzleramt Bonn; Dr. Wolfgang Stock (geb. 1959), zunächst Nachrichtenredakteur der FAZ, später politischer Korrespondent in Bonn, heute leitender Redakteur der „Berliner Zeitung“ in Berlin. Ihnen ist es ein echtes Bedürfnis und moralische Selbstverständlichkeit, sich den Opfern zuzuwenden, zumal „in manchen Medienbeiträgen und Fernseh-Talkshows heute ein Bild von der DDR gezeichnet (wird), das wesentliche Teile der Realität ausklammert oder menschenverachtende Schändlichkeiten ... auf das Fehlverhalten einzelner reduziert. Teile der (west)deutschen Öffentlichkeit sind anscheinend auch jetzt noch nicht bereit oder imstande, Fehleinschätzungen aus der Zeit vor 1990 zu revidieren. Diese beschönigende SED/DDR-Darstellung führt dazu, daß die Opfer des SED-Regimes - und übrigens auch viele Bürgerrechtler - als ewig Gestrige erscheinen, als auf ihr individuelles Schicksal und die Vergangenheit fixierte Psychopathen, als Störer auf dem Weg zur ‚inneren‘ Wiedervereinigung. Aber nicht die Opfer der SED und Bürgerrechtler stören diesen Prozeß, sondern die Verteidiger und subtilen Schönredner des untergegangenen Systems. Daß sie und ihre politischen Vertreter so viel Aufmerksamkeit in den elektronischen Medien finden, ist ein nahezu ebenso großer Skandal wie die Tatsache, daß die Opfer und jene, die in der DDR entscheidend zur Überwindung des Regimes beigetragen haben, von denselben Medien praktisch ignoriert werden.“ (S. 25)

Das mußte mal gesagt werden.

Daß wenigstens einmal in der deutschen Geschichte die Opfer nicht die Dummen sind - dafür braucht es leidenschaftliche Kämpfer, investigative Journalisten, aufrechte Politiker. Glücklicherweise hat dieses Land auch sowas. Bei der Präsentation des Buches in Bonn waren sie fast alle da: Gerhard Loewenthal, Ernst Dieter Lueg, Arnold Vaatz, Rainer Eppelmann, Vera Lengsfeld, natürlich die Autoren und Kanzleramtschef Friedrich Bohl, der ganz liebe Grüße vom Kanzler ausrichtete, der selbstverständlich auch ein Herz für die Opfer hat, für die DDR-Opfer. Einige der bekannteren begaben sich vor wenigen Monaten an seine Seite (wie in dem Gesellschaftsspiel: Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir die XY her). Dort geht es ihnen soweit ganz gut.

Von den unbekannteren Opfern hört man selten. Für etliche von ihnen ist das Leben nun endlich freier - aber nicht unbedingt leichter geworden. Diese Situation soll ein Gesetzentwurf verbessern. Danach können in der DDR politisch Verfolgte, die heute ein unterdurchschnittliches Einkommen beziehen, einen monatlichen Zuschuß von 200 bis 300 Mark beziehen. Der Bund will für diese Leistungen jährlich 10 Millionen Mark zur Verfügung stellen. Angehoben werden die Entschädigungen für Haftzeiten. Die Anerkennung gesundheitlicher Haftschäden soll erleichtert werden. Das betrifft zum Beispiel Brigitte Bielke. Ihr „Fall“ wird im vorliegenden Buch geschildert - er ist symptomatisch für den Eskalationsmechanismus. Brigitte Bielke, 1946 geboren, Kindheit auf dem Dorf, Abschluß 10. Klasse der Polytechnische Oberschule, landwirtschaftliche Fachschule, später Diplom-Agraringenieurin an der Universität Rostock. „Auch ihr politischer Weg verlief unauffällig und durchaus staatskonform“ stellen die Autoren fest. Parteimitglied wurde sie aus Überzeugung. Sie heiratet einen Offizier der Volksmarine, hat zwei Söhne, arbeitet im „Rat für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft“ Stralsund. Dort eckt sie durch kritische Fragen und Hinweise an (u. a. fordert sie vom Parteisekretär, sich mehr mit den Alltagssorgen der Menschen zu befassen als immer nur allgemeine politische Phrasen zu verkünden). Sie geht als Produktionsleiterin in eine LPG. Konfrontiert mit dem DDR-üblichen Widerspruch zwischen zentralen Planauflagen und den realen Bedingungen, landet sie mit ihrer Kritik daran wieder bei den 150prozentigen Genossen, derentwegen sie die Stelle gewechselt hatte. Um der Klüngelwirtschaft zu entgehen, zieht sie nun um. Aber die Einstellungszusage wird zurückgezogen, als ihre Beurteilung vorliegt. Brigitte Bielke klagt dagegen - und gewinnt den Prozeß in 2. Instanz. Dann - inzwischen hat sie das Diplom - bewirbt sie sich erfolgreich als Berufsschullehrerin. Die Arbeit macht ihr Spaß „und die berufliche Freiheit sei viel größer gewesen, als es heute oft behauptet werde“. Trotzdem muß ihr Frust über die Umgangsmethoden gewachsen sein. Der Entschluß, die DDR zu verlassen, entsteht, als sie erlebt, wie eine Bekannte wegen der Beziehung zu einem Schweden schikaniert wird. Mit kritischen Eingaben zu Alltagsfragen versucht sie „sozialistische Demokratie“ ernstzunehmen - erreicht nichts, und da reicht es ihr. Schließlich, es ist Juni 1986, geht sie demonstrativ nicht zur Wahl - und wird zur Unperson. An ihrer Schule lehnt sie die geforderte Stellungnahme ab und erklärt ihren Parteiaustritt. Fristlose Entlassung und (in Ignorierung ihres Austritts) Ausschluß aus der SED folgen. Sie klagt gegen die Entlassung - und zieht die Klage wieder zurück. Zu massiv sind die Einschüchterungen. Arbeit findet sie nicht mehr. 1987 stellen sie und ihr älterer Sohn einen Ausreiseantrag. Am 31. Juli 1988 hat Brigitte Bielke „Westbesuch“. Ihnen gibt sie Unterlagen mit, die bei der Ausreisekontrolle gefunden werden. Später ergeben die Stasi-Akten, daß Brigitte Bielke seit Jahren in ihrem Haus abgehört wurde. Am Abend des 31. Juli, gegen 22.30, dringen 12 Personen bei den Bielkes ein, durchsuchen das Haus, trennen die Familie (die Söhne sind 20 und 15 (!) Jahre alt) und bringen sie nach Halle, in den „Roten Ochsen“, der MfS-Zentrale. Entsprechend einer seit 1986 bestehenden Vorgabe beginnt nun das „Ermittlungsverfahren mit Haft“.

Ist der Vorgang bis hierher noch mit einiger Gutwilligkeit als politisch dumm, ignorant, kleinkariert zu bezeichnen, so beginnt ab diesem Zeitpunkt ein durch und durch menschenverachtender und von diffusen Feindverdächtigungen geprägter Umgang, den Brigitte Bielke in einem Haftbericht ausführlich schildert. Bericht und Auszüge aus den Stasi-Akten dokumentieren (wie in allen aufgeführten Fällen) die unerhörte Anmaßung des MfS, über gut und böse, Recht und Unrecht zu entscheiden. Erschreckend das Maß an Verkommenheit, wenn es darum geht, den angeblichen Gegner - wie Brigitte Bielke - kleinzukriegen. Wer es bis dato nicht war, der wurde es nun tatsächlich. Am 9. Mai 1989 erhalten Brigitte Bielke und ihr älterer Sohn die Ausbürgerungsurkunden. Am 10. Mai reisen sie aus. Nach allem, was sie erlebt haben, kann es nur noch besser werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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