Eine Rezension von Bernd Sander

Agonie der Mächtigen

Michael Richter: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung,
Band 4.
Böhlau Verlag, Weimar/Köln/Wien 1996, 336 S.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gehörte mit seinem riesigen Personalbestand von rund 100000 Mitarbeitern und seiner vorzüglichen technischen Ausstattung zu dem wichtigsten Repressionsinstrument der SED und des von ihr beherrschten und geführten Staatsapparates.

Richter geht in seinem Buch einer der wichtigsten Fragen nach: War das MfS „ein Staat im Staat“, und hat es sich der Partei - wie vielfach behauptet - übergeordnet? Er verneint das kategorisch und betont, daß das MfS stets „Schild und Schwert der Partei“, ein Teil des Parteikörpers und ohne diesen überhaupt nicht lebensfähig war. Folgerichtig verfiel das MfS, wie das Ansehen und der Einfluß der Partei verfiel. „Die Krise der SED wurde“, so Richter, „unmittelbar zur Krise der Staatssicherheit. Mit der schrittweisen Entmachtung der Partei büßte auch das MfS/AfNS an Lenkung, Motivation und Orientierung ein“ (S. 274). Und: „Die Entmachtung von SED und MfS (erfolgte) in wechselnden, sich gegenseitig bedingenden und ergänzenden Schritten“ (S. 262). Die Agonie der Mächtigen war unaufhaltsam.

Als Beweis für die nachgeordnete Rolle des MfS führt der Autor u. a. ein Zitat des früheren Stasichefs Mielke an, der im August 1990 erklärte: „Das MfS unterlag bis zum Schluß der Kontrolle der Partei. Wir waren dem Generalsekretär, dem Nationalen Verteidigungsrat und auch dem Ministerrat gegenüber rechenschaftspflichtig.“ (S. 30) Es ist bedauerlich, daß Richter nicht näher auf diese wichtige und ohne Zweifel sehr schwierige Problematik eingegangen ist, denn der Rezensent wagt zu bezweifeln, daß es überhaupt eine wie auch immer geartete Kontrolle der Staatssicherheit gegeben hat.

Breiten Raum widmet der Autor den Versuchen von Modrow, das MfS/AfNS als „SED-eigener Partei-Geheimdienst“ weiter arbeiten zu lassen. Das zeigte sich an der weiteren Bespitzelung der neuen politischen Kräfte, aber auch an dem Bemühen, zwei neue Geheimdienste bei gleichzeitiger Auflösung des AfNS zu schaffen - einen Verfassungsschutz und einen Auslands-Nachrichtendienst. Dafür waren die beiden langjährigen MfS-Generäle Heinz Engelhardt und Werner Großmann vorgesehen. „Die Benennung der beiden Generäle ... macht erneut die personelle Kontinuität von MfS über das AfNS bis hin zu den beiden neuen Dienststellen deutlich“ (S. 110). Dieser „Restaurationskurs“ Modrows scheiterte jedoch am Widerstand der Bürgerkomitees und des Zentralen Runden Tisches.

Detailliert und faktenreich beschäftigt sich Richter mit der Arbeit der Bürgerkomitees und ihren konkreten Bemühungen, die von der Führung der DDR und von einflußreichen MfS -Mitarbeitern betriebene Vernichtung von Akten zu verhindern. Deren Arbeit wurde allerdings durch die vielfältigsten Methoden massiv behindert.

Eine besondere Rolle spielte die Vernichtung der Akten und elektronischen Datenträger der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS sowie deren Selbstauflösung. Die HVA wurde auch von den Bürgerkomitees, so zitiert Richter Gauck, vielfach als „Edelvariante“ des MfS betrachtet, da ja jeder Staat über einen Auslandsgeheimdienst verfüge. Hinzu kam, daß es berechtigte sowjetische Interessen gab, die weder von der Regierung de Maizière noch von der Bonner Regierung ignoriert werden konnten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die umstrittene und widersprüchliche Rolle des damaligen DDR-Innenministers Distel. Zusammenfassend schreibt der Autor zu diesem Komplex: „Die Hauptverwaltung Aufklärung wurde ohne jede Kontrolle aufgelöst. Dem Aktenmißbrauch waren Tor und Tür geöffnet, und es war sogar möglich, die Akten an fremde Dienste zu übergeben.“ (S. 224)

Richter behauptet, daß der KGB früher der HVA verpflichtete Agenten übernommen habe. Er stützt sich dabei auf Aussagen von MfS-Offizieren und von westlichen Geheimdienstexperten. Das ist zwar vorstellbar, aber nicht bewiesen. Außerdem soll der BND und die CIA großes Interessen an der Übernahme von MfS-Mitarbeitern gehabt haben, die in der Regel über Intelligenz, eine gründliche Ausbildung und vor allen Dingen über Interna verfügten, die teilweise von höchster Brisanz waren. Richter stellt außerdem die These auf, daß das MfS auch nach dem Beitritt der DDR zur BRD, also nach dem 3. Oktober 1990, noch weitergearbeitet hat. Dieser nicht bewiesenen Behauptung widmet er gar ein ganzes Unterkapitel.

Der Autor schließt sein Buch mit einem ausgewogenen Resümee, einem umfangreichen Anhang, einem Literaturverzeichnis sowie mit einem Orts- und Personenregister und einem Abkürzungsverzeichnis. Der Band zeugt von umfangreicher Sachkenntnis des Autors. Es ist gründlich, analytisch, detailliert und zeichnet sich vor allen Dingen durch die richtige Einordnung von MfS, Partei, Staat und den Einfluß innerer und äußerer Faktoren aus. Es gehört m. E. zu den besten Sachbüchern, die es gegenwärtig zu dieser Problematik gibt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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