Eine Rezension von Kathrin Chod

Weltformel zur Orientierung

Dirk Richter: Nation als Form
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1996, 294 S.

Mitunter gibt es ja Themen, von denen man denkt, hier wäre schon alles gesagt, erforscht und analysiert. Das Thema Nation zählte sicher auch hierzu. Dann zerfallen Jugoslawien und die Sowjetunion, neue Staaten entstehen, Nationen oder Völker erklären ihre Unabhängigkeit. Kroaten schlagen auf Bosnier ein und umgekehrt, Moldawier auf Russen und umgekehrt, Slowaken sagen sich von den Tschechen los, und das alles im friedlichen Europa. In einer zivilisierten und hochtechnisierten Gesellschaft schienen derartige Probleme der Vergangenheit anzugehören. Europa bewegte sich zur Einigung, auch wenn es nur Westeuropa war und wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen, war das eben weit weg. Auch daß sich unter der gleichförmigen Oberfläche der sozialistischen Staatengemeinschaft nicht nur politischer, sondern auch nationaler Widerstand zeigte, wurde wissenschaftlich offenbar kaum reflektiert. Zu Nation und Nationalismus publizierten bislang vor allem Historiker. Hier wird „Nation“ häufig im negativen Zusammenhang erwähnt: „nationale Auseinandersetzung“, „nationale Konflikte“, „nationales Pathos“, „gegnerische Nationalität“.

Dirk Richter konstatiert, daß die Nation als Untersuchungsobjekt der Soziologie vernachlässigt und gleichzeitig ihre theoretische Analyse unterbelichtet blieb. Diese Lücke schließt er nun mit seiner Dissertation, in der er sich tiefgehend mit der Literatur zum Thema auseinandersetzt. Bestandsaufnahme, Entwicklung eines eigenen Modells und dessen Anwendung sind die Schritte dieser beeindruckenden Arbeit.

Dirk Richter beginnt mit einer kritischen Analyse der soziologischen Nation- und Nationalismustheorie, angefangen mit der klassischen Soziologie über den klassischen Marxismus - hier findet insbesondere der Austromarxist Otto Bauer besondere Beachtung, dessen Studie zur Nationalitätenfrage von Richter als erste grundlegende theoretische Analyse des Gegenstandes bezeichnet wird - weiter erörtert der Autor die Ansätze der „bürgerlichen“ Soziologie (Max Weber und Werner Sombart) und zeigt die Schwächen der gegenwärtigen Theorien auf.

Was ist nun eine Nation, und wer gehört dazu? Diejenigen, für die es behauptet wird, oder diejenigen, die sich selbst als „Nation“ beschreiben? Um der Gefahr zu entgehen, der Selbstbeschreibung bestimmter Personen aufzusitzen, begibt sich Richter auf die semantische Ebene. Die Nation sei demnach eine semantische Form, mit der beobachtet, also die Welt bestimmbar gemacht wird.

Die Beurteilung der „Nation“ als Phänomen, das der Moderne nicht gerecht werde, wie dies Habermas nahelege, verbiete sich von selbst. Vielmehr sei die „Nation“, das in der Moderne „dominante Programm zur Beobachtung überstaatlicher Prozesse“. Was die Beobachtung von Globalisierungsprozessen in verschiedenen Regionen der Erde auslöst, wurde in der Forschung bisher zuwenig berücksichtigt. Richter sieht nicht nur politische und wirtschaftliche Aspekte der Globalisierung. Auch Wissenschaft, Rechtssprechung und selbst intime Beziehungen sind nicht mehr territorial gebunden, wie an der Ausbreitung von AIDS zu sehen sei. „Eine einzige ... Infektion eines südamerikanischen Geschäftsmannes durch eine Dame aus Osteuropa, die vormals einen deutschen Fixer zum Freund hatte, macht die globale Dimension deutlich.“

Neben diesen internationalen Abhängigkeiten nehmen gleichzeitig regionale Differenzen zu. Wenn nun früher nicht miteinander verbundene Regionen in den „Sog globaler Kommunikation“ geraten, fördere das den Vergleich mit Fremden, den Blick auf die eigenen Besonderheiten und damit die Ausbildung nationaler Semantiken. Diese entsprechen gleichzeitig dem Bedürfnis nach Orientierung insbesondere in Krisenmomenten.

Ob die gegenwärtige Konjunktur des Nationalismus anhält, darüber möchte Dirk Richter keine Voraussagen treffen. Er hält es hier mit den Klassikern, die sich nicht zu kühnen Prognosen verleiten ließen, welche von der Realität nur Jahrzehnte später mit Wucht dementiert worden wären.

Kathrin Chod


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite