Eine Rezension Kitty Kalina

Zeitzeichen - Erinnerungen an damals

Gudrun Nositschka: „Auf Wiedersehen in Leipzig“
Deutsch-deutsche Freundschaften 1961-1995
Bouvier Verlag, Bonn 1995, S. 257

„Ich werde alt und grau, bin eine Deutsche, lebe in Deutschland, aber habe keine Chance, einmal in meinem Leben Ebbe und Flut zu erleben. So dachte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn das Meer langsam fortgeht und wiederkommt. Ihr glaubt gar nicht, wie glücklich ich bin, endlich Ebbe und Flut gesehen zu haben!“ schreibt Dorli 1987 in einem Reisebericht. Das Wunder war passiert - am 19. 11. durfte sie „das ,Ja‘ oder ,Nein‘ abholen und damit den Paß“. Am 21. 11. 1987 fährt sie nach drüben, in den Westen.

Der Dorli-Text belegt zwei immer vorhandene, in politischen Überlegungen und Entscheidungen jedoch nie oder nur zeitweilig berücksichtigte Tendenzen in der DDR-Gesellschaft: Die nationale Frage und den Traum vom Reisen. Noch im März 1989 schreibt Dorli an die Westfreundin Gudrun Nositschka über die Erinnerungen an ihre Reise und bedankt sich ausdrücklich dafür, „daß Du den Mut hattest mit meinem Bruder um einen Kasten Sekt wegen der Einheit zu wetten. Es tat mir gut!“ 8 Monate später fällt die Mauer, am 3. 10. 1990 wird die Wette eingelöst. Gudrun N. erinnert sich: „Wir kamen aus Krefeld, Mölkau, Freiberg und Wachendorf zusammen, um ... auf die Einheit mit dem Sekt aus der Wette anzustoßen. Müde und erschöpft saßen wir herum, wie Marathonläufer. Keine Euphorie zu spüren. Viel Nachdenklichkeit. Als die Bilder im Fernsehen liefen, die Nationalhymne gespielt wurde, nahmen wir uns in die Arme und versicherten uns gegenseitig: ,Es wird schon werden!‘“

Ende einer Epoche - Ende eines Briefwechsels, der 1961 begonnen hatte. Aus über 1000 Briefen und Postkarten hat Gudrun Nositschka Texte für das vorliegende Buch ausgewählt.

Am 9. August 1961 treffen sich in Westberlin eine evangelische Jugendgruppe aus Gladbeck und Mitglieder der Jungen Gemeinde aus Dresden, Leipzig und Magdeburg. Der Kalte Krieg ist auf seinem Höhepunkt, die Schlagzeilen sind bedrohlich, Hysterie auf beiden Seiten. 1961 verlassen pro Monat durchschnittlich 19 000 Menschen das Land - die ökonomischen Substanzverluste sind katastrophal. Die DDR steht vor dem Kollaps. Die WAZ warnt vor verschärften Kontrollen und Schikanen gegen Grenzgänger und Republikflüchtlinge, das „Sächsische Tageblatt“ berichtet über „Agentenprozeß vor dem Obersten Gericht der DDR“. Chruschtschow und Kennedy haben sich in Wien geeinigt: Bei Wahrung der „Three Essentials“ der westlichen Berlin-Politik (Anwesenheit der Westtruppen, das Recht ihres freien Zugangs, Unantastbarkeit der Lebensform der Bewohner) hat die Sowjetunion Handlungsspielraum, um dem in der Klemme sitzenden Verbündeten DDR Schützenhilfe zu leisten. Das ist die Blankovollmacht für Maßnahmen gegen die Massenflucht.

Am Sonntagmorgen fährt die Gladbecker Gruppe zum Gottesdienst im Prenzlauer Berg. „Am Brandenburger Tor schien etwas los zu sein. Unser Bus mußte anhalten. Überall Wachposten. Männer rissen die Straße auf, errichteten Barrikaden aus Stacheldraht. Ich hatte den Eindruck, daß ich nicht glauben wollte, was ich sah.“ Die meisten der DDR-Jugendlichen fahren nach Hause zurück. Unter ihnen die verweinte, traurige Gisela, mit der Gudrun sich befreundet hat. Abschied an der S-Bahn: „Auf Wiedersehen in Leipzig.“

Es beginnt ein Briefwechsel, der sich schnell erweitert. Dorli und Christa (Schwestern von Gisela) werden einbezogen, Ruthli, eine Berlinerin, und Hanns-Herbert, kommen hinzu, später auch die erwachsenen Kinder der Freundinnen, die Familie einer Cousine aus Parchim. 1974 bricht der Kontakt zu Christa ab. Nach 1990 erfährt Gudrun N., daß Christa die Brieffreundschaft aufgab, um ihren Arbeitsplatz in der Universitätsbibliothek nicht zu gefährden.

Über die Jahre vermitteln die privaten Mitteilungen ein durchaus authentisches Bild von Lebenssituationen. Denkstrukturen und Gefühlslagen erschließen sich - im nachhinein ein interessanter Blick auf Lebensformen, die auf bewußte Nischenexistenz verweisen. Keine Totalverweigerung, Anerkennung auch mancher gesellschaftlichen Entwicklung, Reibung an und Widerspruch gegen politische(n) Entscheidungen (dies ausschließlich im familiären- und Freundeskreis) - Anpassung, die manchmal wehtut und nach 1989 zum Selbstvorwurf führen wird, wie bei Dorli 1990: „... Ich weiß es, ich war auch immer zu angepaßt, habe zwar furchtbar gelitten, mir war klar, an diesem Sozialismus würde ich mal sterben, wenn sich nichts ändert - doch auch ich habe dieses System mitgetragen, mitgelogen ...“ Aber es gab auch Zeiten, „in denen ich es wichtig fand, hier zu leben, hier etwas zu tun, was für Menschen wertvoll ist. Jeder an seinem Platz.“ Doch auch das ganz normale Leben findet in den Briefen statt. Hüben wie drüben wird geliebt und geheiratet, Kinder werden geboren, wachsen heran, lernen einen Beruf, machen das Abitur, schreiben Diplom- und Doktorarbeiten, heiraten selbst. Es werden Häuser gebaut (da freilich gibt es beträchtliche Unterschiede), Urlaubsreisen gemacht, Feste gefeiert. Man informiert über Bucherscheinungen (Kants Impressum), tauscht Gedanken über die Stellung der Frau in der Kirche aus, vergleicht die Mieten, ist fassungslos und zornig über die Ausweisung Biermanns 1976 und 10 Jahre später über den Reaktorunfall in Tschernobyl.

Fast in jedem Brief gibt es neben dem Privaten solche Zeit-Zeichen - Erinnerungen an damals. Gudrun Nositschka verstärkt diesen Effekt durch Dokumente und Berichte zu und über die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD: Verträge und Abkommen, Staatsbesuche und Zwischenfälle, Schikanen und Spannungen. Manches wirkt heute skurril, wenn z. B. Erich Honecker am 15. Februar 1981 vor Parteifunktionären erklärt, der Sozialismus könne auch einmal in der BRD „an die Tür klopfen“. Dann stelle sich die „Frage der Vereinigung beider deutscher Staaten vollkommen neu“.

Es ist einer dieser Zufälle, wie das Leben sie romanhaft produziert, daß Gudrun und Gisela, die den 13. August 61 in Berlin erlebten, nun auch den 9. November 89 zusammen verbringen. Gudrun schreibt: „Gisela ist am 9. November bei mir zu Besuch. Gemeinsam wollen wir uns um 20.00 Uhr die Tagesschau ansehen, da geht das Telefon. Gerade als ich den Hörer auflege, kommt Gisela zu mir und sagt unsicher: ,Gudrun, ich glaube, die Mauer ist offen!‘“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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