Eine Rezension von Burga Kalinowski

Im Kintopp wie im Leben: Cui bono?

Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministe-
riums für Staatssicherheit
Richtlinien und Durchführungsbestimmungen.
Aus der wissenschaftlichen Reihe des Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
Ch. Links Verlag, Berlin 1996, 544 S.


Für einen Spionage- und Agententhriller der etwas besseren Machart blieb (und bleibe) ich schon mal bis in die tiefe Nacht vorm Fernseher kleben. Also, spannend sind sie oft, und aufschlußreich fast immer - diese Streifen (meist von Warner Brothers) über das unauffällige Wirken der guten Geheimen, die zum Wohle ihres Landes, im Dienste einer großen Idee auf vielfältige, phantasievolle Weise aktiv werden. Ohne daß es der Öffentlichkeit unangenehm auffällt, versteht sich.

Nun weiß ja jeder, daß Filme dieser Art nicht Wirklichkeit pur sind, wohl aber lassen sie Rückschlüsse zu auf das Gemein- und Geheimwesen, in dem das Ganze spielt. Um es kurz zu machen: Ich habe meine Kenntnisse über geheimdienstliches Treiben lange Zeit aus cinematischen Werken bezogen - und nichts kann mich noch überraschen. Intelligentes Ausbaldowern, brutale Erpressung, Verrat, Entführung, Mordversuch. Konspiration, geheime Treffs, tote Briefkästen. Wanzen, Bomben, Gift und Kohle. Psychologie und Folter - man kennt das alles, und weiß: Das ist doch fürn guten Zweck. Ja, freilich - darum geht es immer. Die Frage ist nur: Cui bono? Allein dieser Antwort wegen hätte man schon immer mal zu gern Mäuschen gespielt in den Stuben und Stübchen der Akteure. Einen Blick geworfen in die Zentralen der Strippenzieher.

Nun kann man: Die Totale und ganz nah. Das Ganze und die Details. Strukturen, Prinzipien, Befehle. Die Täter, die Opfer - die Namen. Was nach den Kriegen dieses Jahrhunderts trotz größter Verbrechen nicht oder nur begrenzt möglich war, für die Akten des Außenministeriums (!) der DDR sicherheitshalber auf 30 Jahre ausgeschlossen wurde - das ist für den übriggebliebenen Bestand der papiernen Hinterlassenschaft der DDR möglich: Freier Zugang. Obduzieren, präparieren, analysieren. Archive als pathologische Institute. Exemplarisch dafür die Bundesbehörde für die Unterlagen des MfS. Ein Sicherheitsdienst, der denen der USA, Israels, der UdSSR, Frankreichs in puncto Erfolgsrate in nichts nachgestanden haben soll. So jedenfalls geht die Sage - und die ist wahrscheinlich eine gut lancierte Desinformation, von wem auch immer in die Welt gesetzt. Tatsache ist: Das MfS erfreut sich - nach der nicht geplanten Einstellung aller Aktivitäten - beim Thema DDR-Geschichte der Aufmerksamkeit einer ziemlich interessierten und kunterbunten Öffentlichkeit. Das ist verständlich. Immerhin fungierte das MfS als „Schild und Schwert“ zu einem beträchtlichen Teil nach innen, sorgte für trügerische Sicherheit, erzeugte künstliche Stabilität. Der dazu erforderliche Apparat erfuhr im Laufe der Zeit immense Erweiterungen. Das Netz der inoffiziellen Mitarbeiter (der nach Zaisser und vor Mielke amtierende Minister Wollweber sah die IM als „Atmungsorgane“, ohne die „wir nicht leben und nicht arbeiten können“) wuchs von ca. 10 000 (1950) auf 174 000 (1989) an, insgesamt waren über die Jahre 600 000 Personen mit der „inneren Abwehr“ befaßt.

Das Buch zum Thema „Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit“ dokumentiert bemerkenswert sachlich das vorgefundene Material. Erklärte Absicht ist, mit der „Verbreiterung des Wissens über die IM, der dieses Buch dienen soll“ die Versachlichung der Debatte zu befördern. Dies könnte sogar gelingen, nähmen die Protagonisten der IM-Polemik diese Analyse von Müller-Enbergs denn auch zur Kenntnis. Der nunmehr 3. Band der wissenschaftlichen Reihe „Analysen und Dokumente“ aus dem Hause Gauck präsentiert Dokumente, die das Fundament für die Säule „IM“ bilden. Von allen Bereichen des MfS verdeutlicht besonders das IM-Gefüge die permanente Unsicherheit der politischen Führung in bezug auf die Übereinstimmung zwischen Partei/Regierung und Volk - eine oft gebrauchte (zweifelsohne ernstgemeinte und nicht nur aus der Luft gegriffene) Beschwörungsformel, die am Ende aber eben nicht aufging.

Der preußisch-bürokratische Wahn des Sicherheitsapparates hat folgerichtig ganze Aktenkilometer hinterlassen. Unter ihnen überaus detaillierte Anweisungen für die Tätigkeit der IM. Gewissermaßen ein Reglement, das aus diversen Richtlinien, Aktenordnungen und Durchführungsbestimmungen besteht - geheimgehalten bis zum Ende, mit Fleiß, Hingabe und perfektionistischem Geist im DDR-Alltag praktiziert. In den 80er Jahren existierte so gut wie kein Bereich des gesellschaftlichen Lebens mehr, in dem nicht wenigstens ein Mielke-Mann saß. Vielleicht war das MfS IM-frei - der nachgerade konspirative Umgang mit den IM-Richtlinien belegt allerdings auch hier tiefes firmeninternes Mißtrauen. So war jede Richtlinie numeriert, ihre Verteilung und jeglicher Gebrauch zu registrieren, aufbewahrt wurden sie im Panzerschrank der leitenden Mitarbeiter. Spezielle Sicherungsmerkmale wie helle Holzfasern, kleine Flecke oder verkürzte Druckzeiten wurden für jedes Exemplar in einer versiegelten Liste erfaßt. Damit sollte eine „undichte Stelle“ im Apparat zügig ausgemacht werden können.

Müller-Enbergs untersucht und vergleicht diese Dokumente, zieht eine Fülle anderer Unterlagen heran und stellt seine Betrachtungen in den Kontext der jeweiligen, sich durch politische Entwicklungen ebenfalls verändernden, Aufgaben und Bedingungen der Arbeit des MfS. Damit geht er über faktologisches Sammlertum hinaus - liefert eine gediegene erste Analyse zum Thema. Der Verzicht auf Fallbeispiele ist ein weiteres Indiz für den sachlich forschenden, auch mal auf populäre Headlines verzichtenden, Arbeitsstil. Wer freilich eine Entlastungsbroschüre erwartet, setzt aufs falsche Buch. Müller-Enbergs ist ein Mann von draußen - und also frei zumindest von DDR-Einbindungen. Ein Vorzug dann für Analysen, wenn nicht eine andere Zeitgeistbindung den Blick bestimmt. Durchaus möglich also, daß der eine oder andere Leser Fakten und Zusammenhänge völlig anders beurteilt, und wieder andere monieren vielleicht, daß hier zu zach mit einer Unterabteilung des Bösen umgegangen wurde - Sachlichkeit hat selten eine Chance gegen Borniertheit und Ignoranz.

Anders als im Kintopp, da klappt es manchmal. Doch im Film wie im wirklichen Leben gilt: Cui bono?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite