Eine Rezension von Tina Kreuzmann

Auftrag zum Heucheln

Jörn Mothes u. a. (Hrsg.): Beschädigte Seelen
DDR-Jugend und Staatssicherheit.
Edition Temmen, Bremen/Rostock 1996, 347 S.

Ich habe 2 Kinder. Sie haben ihre Zeit in der DDR unbeschadet überstanden. Im Kindergarten mit Puppen und Holzautos gespielt, Perlen zu Ketten gefädelt, Türmchen gebaut und Lieder gesungen wie „Der Kuckuck und der Esel“. Sie haben im Sandkasten Ritterburgen geformt und im Herbst bunte Blätter gesammelt. Sie lernten mühsam Schleifen binden und nur bei „grün“ über die Straße zu gehen. Sie haben sich mit anderen gezankt und wieder vertragen, bittere Tränen bei der „Kleinen Meerjungfrau“ geweint, verzaubert den krabbelnden Marienkäfer auf der Hand beobachtet, und sie sind begeistert durch Regenpfützen gepatscht. Sie haben die „Sesamstraße“ gesehen und im „Bummi“ gelesen. Gelegentlich das Pioniertuch getragen und ebenso gelegentlich Altstoffe gesammelt. Beim Fahnenappell haben sie geschwatzt und gekichert - die Lehrerin machte dann immer „du-du“. Die Einschüchterung der lieben Kleinen hielt sich sehr (wirklich sehr) in Grenzen. Aber wer weiß, vielleicht sitzt das tiefer, und frißt und frißt.

Das beunruhigt mich, nachdem ich im obengenannten Buch in dem Beitrag „Das Bild vom Kind - Spiegel einer Gesellschaft“ folgendes las: „Überall in der Welt beeindruckte die DDR vor allem durch ihr flächendeckendes Netz an Kindereinrichtungen“ - das ist schon mal übel und bedenklich und natürlich ein gemeiner Trick. Denn „es ging der Partei nicht nur darum, die Arbeitskraft der Frauen auszubeuten und sie im Betrieb besser unter Kontrolle zu haben. Es ging vor allem um den Einfluß auf die nächste Generation, um deren Formung zu widerstandslosen Untertanen, was durch eine Vielzahl ineinandergreifender Maßnahmen erreicht werden sollte.“

Noch nie gemerkt, doch nun gewußt: Ich habe nicht 2 Kinder, sondern widerstandslose Untertanen. Tatsächlich, der eine konnte am Ende der ersten Klasse schon richtig lesen, was nicht (ich wiederhole: nicht) mit Neugier und Spaß zu erklären ist, sondern mit der tückischen Planmäßigkeit, mit der den armen Huschelchen das ABC eingebleut wurde. Meine Tochter schließlich war ganz gut im Rechnen, was ebenfalls nichts mit Spaß und vielleicht Begabung zu tun hat, sondern mit dem Übungsplan.

Wahr ist auch, daß sowohl meine als auch andere Kinder bereits mit zarten 12 Monaten den Brei löffelten, als 3- oder 4jährige nicht mehr ins Höschen kackten, sondern die Toilette benutzten - „der Plan, dieser heilige Götze“ sah nämlich irgendwann das Hantieren mit dem Löffel vor, ebenso das herzlose Weglassen der Windeln. Wo doch jeder weiß, wie gern selbst 4- und 5jährige gefüttert werden und Windelhosen tragen („ätsch, ich werde noch gewindelt - du nich, ätsch“). In Wirklichkeit war alles noch viel schlimmer. Das fing ja vor der Geburt schon an! „Das wichtigste Instrument zur Erziehung der Kinder war der Plan. Der begann im Prinzip schon mit einer planmäßigen Zeugung. ... Vorsorgeuntersuchungen waren für Schwangere Pflicht und haben wesentlich zu einer sehr niedrigen Mortalitätsrate bei Geburten beigetragen. Sie waren genau geplant, ebenso wie der Ablauf der Geburten, Nachsorgeuntersuchungen und die Impftermine für das Neugeborene. Ein Mitbestimmungsrecht der Mutter oder gar eine Auswahl unter mehreren Möglichkeiten gab es nicht.“

Achja, diese schlimmen Zwangsuntersuchungen, um eventuelle frühkindliche Schädigungen zu erkennen, um Krankheiten auszuschließen, um den Müttern Sicherheit zu geben. Kurz, die kleinen Untertanenmenschen standen von Anfang an unter sorgfältigster Beobachtung, in der Hoffnung, „daß nach Plan entwickelte Kinder später brave Planerfüllungsarbeiter werden würden - Menschen ,neuen Typs‘, die die Partei für ihr Staatsmodell brauchte“.

Bekanntermaßen hat sich das alles erledigt: Das Staatsmodell, die Partei, diese Untertanen - um so mehr irritiert das undifferenzierte Schwarz-Weiß-Bild, das als der Betroffenheit“ dargestellt wird, und (aus gutem Grund, ist zu vermuten) keinen „wissenschaftlich abgesicherten Beitrag liefern“ will. Das ist schade für das Buch, nützt dem Thema wenig - wirkt eher wie eiferndes Waschfrauengezänk. Simpel, äußerst simpel.

Meine 2 Kinder jedenfalls haben (wegen, mit und trotz „Timur und sein Trupp“, roten Fähnchen am 1. Mai und Honeckerbild im Klassenzimmer) ihre DDR-Kindheit unbeschwert erlebt. Aber vielleicht haben sie einfach nur Glück gehabt.

Zu fragen ist, was passierte jenen, die kein Glück hatten.

Die Dokumentation über DDR-Jugendliche und Stasi gibt darauf eine präzise Antwort - die zwar nicht repräsentativ für d a s Leben in d e r DDR ist, wohl aber Einblicke in übelste Praktiken ermöglicht.

Die Schizo-Welt eines Geheimdienstes (überall destruktiv und skrupellos, will er erfolgreich sein) entzieht sich normalem Vorstellungsvermögen. Verdächtigung und Verfolgung sind Handlungsantriebe, mit denen irgendwann immer die Grenze zur Unmoral überschritten wird. Das ist bestens bekannt aus einschlägiger Sachliteratur, aus Filmdokumentationen und aus diversen Selbstdarstellungen der „Dienste“. In der Zone der ausforschenden Agenturen und schnüffelnden Agenten haben die als verbindlich geltenden allgemeinen Verhaltensnormen keinen Bestand. Täuschung, Lug und Trug, Mißbrauch und Verrat, Fälschung, Mord und Terror jeder Art gehören zum Instrumentarium - und über allem die Maxime: Nicht erwischen lassen.

Damit sieht es für das MfS ja nun denkbar schlecht aus: Voll erwischt. Die Akten sprechen Bände. Ein besonders mieses Kapitel liegt jetzt in Buchform vor. Die Autoren (die meisten kommen aus der DDR, viele waren in der Kirche aktiv, fast alle befanden sich im Widerspruch zum realen Sozialismus, einige sind heute Mitarbeiter in Stasiarchiven) beschreiben aus politischer und wissenschaftlicher Sicht wie auch am Einzelfall den Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen, die dadurch entstandenen seelischen Störungen und Verletzungen.

Nach der Wende wurden im MfS-Nachlaß wissenschaftliche Arbeiten, Sach-und Personenakten, Befehle und Dienstanweisungen gefunden, in denen es um die sicherheitspolitische Beobachtung Jugendlicher durch Jugendliche geht. Als IM sollten auch unter 18jährige befähigt werden, „operativ bedeutsamen Personen ,unter die Haut zu kriechen und ins Herz zu blicken‘“. Operativ bedeutsam - das konnte ein Schulfreund sein mit Kontakten zur Kirche, ein Lehrling im Jugendkollektiv, der nach „drüben“ wollte, die poltisch unreif diskutierende Freundin.

Eine Vielzahl von „negativen Erscheinungen“ unter Jugendlichen (ausschließlich der „politisch-ideologischen Diversion“ [PID] des Gegners zugeschrieben) signalisierte dem MfS Handlungsbedarf. Zu den als staatsfeindlich erfaßten Verhaltensweisen zählten zum Beispiel:
- „Zweifeln an der Richtigkeit der Politik unserer Partei und Regierung.
- Das Lesen und Austauschen ideologisch zersetzender Literatur und von Schundliteratur.
- Das selbständige Produzieren feindlich-negativer Auffassungen, z. B. in Form politisch-negativer Witze, Sketche, Lieder, Losungen, Sprechchöre.
- Das Bilden von Gruppierungen, deren Charakter durch gemeinsame feindlich-negative Auffassungen geprägt ist, z. B. im Rahmen religiöser Tätigkeit.
- Das Ablehnen der Teilnahme an Veranstaltungen des Wehrkundeunterrichts.
- Die Verweigerung des Eintritts in die FDJ ... und der demonstrative Austritt.
- Die Übernahme westlicher Moralauffassungen und Lebensweisen, wie z. B. des Punk, der Rocker, Popper, Tramper u. ä.
- Das Provozieren Erwachsener durch rüpelhaftes Benehmen, ,moderne‘ Haarschnitte und Kleidung ...
- Die lustlose Erfüllung von Lern- und Arbeitsanforderungen.“

Der Katalog ist unvollständig. Er stammt aus einem Studienmaterial des MfS für das Fachschulfernstudium aus dem Jahr 1985! Schon 1963 wurde aus einer Analyse der Situation unter Jugendlichen die Schlußfolgerung gezogen, daß „ein einheitliches System der differenzierten Bekämpfung der direkten Feinde unter den Jugendlichen und den Organisatoren der Feindtätigkeit auf diesem Gebiet entwickelt werden (muß). Das erfordert die Organisierung eines lückenlosen inoffiziellen Netzes ...“.

Folgerichtig wurde diese Aufgabe - wenn auch ohne dauerhaften Erfolg - mit viel Aufwand betrieben. Anfängliche Skrupel (laut einer Durchführungsbestimmung von 1968 hatte die Werbung von IM unter Berücksichtigung des Mindestalters von 18 Jahren zu erfolgen) verflogen in der Praxis. 1972 wird an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam eine Diplomarbeit über „Die Gewinnung von Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren für die inoffizielle Zusammenarbeit durch Diensteinheiten des MfS“ geschrieben.

Der Gedanke, eine(n) 15jährige(n) so zu „motivieren“, daß er Freunde und Bekannte ausspitzelt - das ist einfach zum Kotzen. Der aktuelle Forschungsstand (Auswertung von Akten jugendlicher IM) weist bei Minderjährigen einen recht geringen Anteil, „vielleicht 1-2 Prozent des IM-Gesamtbestandes“ aus - aber nicht die Anzahl ist das Schlimme, sondern der Vorgang: Jugendliche, die noch auf der Suche sind, in ihrem Wunsch nach Selbstbestätigung zu benutzen. Die in ihrem persönlichen Umfeld (vielleicht) vorhandenen Zuwendungs- und Vertrauensdefizite scheinbar auszufüllen - Zutrauen wecken, Vertrauen gewinnen, um es dann schäbig in Abhängigkeiten umzumodeln, als Erpressungsmaterial zu nutzen. Für die Gewinnung jugendlicher IM wurden die üblichen Methoden um jugendgemäße Spezifika erweitert. Schule und FDJ, manchmal auch das Elternhaus, mit einbezogen. So fand eine Vielzahl von ersten Kontaktgesprächen oft im Zimmer des Direktors statt. Zu den gängigen Werbeargumenten gehörten: - die persönliche Überzeugung des Kandidaten (Appell an Wertvorstellungen, gesellschaftliche Notwendigkeit), - Befriedigung materieller oder ideeller Interessen (Geld oder Abenteuer- und Detektivromantik), - „Wiedergutmachung“ (Erpressung sozial oder kriminell gefährdeter, bzw. auffälliger Jugendlicher).

Bei fast allen Werbungen sollte berücksichtigt werden, so der Hinweis in einer wissenschaftlichen Arbeit, „daß der jugendliche Kandidat noch oftmals von moralischen Vorurteilen behaftet ist und sich die Frage stellt: Ist die Zusammenarbeit eine moralisch gute und sittlich saubere Tätigkeit?“ Solche Vorbehalte galt es auszuräumen. Ein ganzes Gefüge von Wertvorstellungen mußte umgebaut, ein Menschenbild installiert werden, das im Wortsinne a-sozial war. Denn schließlich mußte der IM erreichen „daß die operativ interessierende Person (also gegebenfalls der/die Freund/in) zum IM volles Vertrauen hat, während der IM ihr gegenüber Vertrauen vortäuscht.“ Mit einem Decknamen der eigenen Wahl wurde das Doppelleben gekrönt.

Glanz und Elend dieser Karrieren sind bei weitem noch nicht erforscht. Das Buch ist ein weiterer Versuch, die biographischen Voraussetzungen und Folgen jugendlicher IM-Tätigkeit im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen zu analysieren. Mit einem hohen Dokumentenanteil werden Strategie und Taktik dieses Geheimdienstes, politische Ziele und psychologische Manipulation belegt. Ausgewählte Fallbeispiele vermitteln einen beklemmenden Eindruck davon, wie zerstörerisch der Auftrag zum Heucheln wirkte (auch bei freiwilliger Mitarbeit). Die Geschichten von Dieter, Bärbel, Manfred erzählen, wie 16- und 17jährigen Lebensmaßstäbe verloren gehen. Erst Jahre später wird ihnen dieser Verlust bewußt werden - zu spät für viele. Identität verliert sich in fortwährender Verstellung. Das Sich-Wiederfinden - ein schmerzhafter Prozeß. Den wenigsten gelingt ein Leben im Gleichgewicht.

Manfred sagt heute: „Ich lasse keinen mehr an mich ran ... Ich bin deshalb immer allein.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite