Eine Rezension von Arno Steinwald

Lesenswerte Lektionen trotz zweier Irrtümer

Günter Grass: Angestiftet, Partei zu ergreifen
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994, 346 S.

„Wer wird dieses Bändchen kaufen?“ - Diese Frage wurde 1961 in einem etwas anderen Kontext gestellt und zu ganz anderer Zeit. Die hier zu besprechende Sammlung von Grass'schen Reden und Texten ist schon Geschichte, auch wenn ein Beitrag aus dem Jahr 1993 stammt. Das heißt aber nicht, daß diese Texte deswegen uninteressant oder von mangelnder Aktualität seien. Sagen wir es kurz: Grass hat sich, wie die meisten von uns, in zwei Punkten gründlich geirrt: Helmut Kohl für einen „Übergangskanzler“ zu halten entsprang sicherlich einem Wunschdenken und einer allgemeinen Unterschätzung der Machtinstinkte dieses nur äußerlich allzu biedermännisch wirkenden Politikers. Wir haben es gerade vernommen: Er kandidiert wieder, er „will's noch einmal wissen“. Auch wenn die Arbeitslosenzahlen von unter einer Million auf, realiter, fast das Zehnfache angestiegen sind. Es wird von Globalisierung und sonstigem gefaselt und der von Willy Brandt und anderen geforderte „mündige“ Bürger zum Stimmvieh im „Freizeitpark Deutschland“ heruntergequasselt, mit Methode allerdings. Der schon erwähnte Machterhaltungsinstinkt ist traurige Wirklichkeit geworden; Menschen, Kollegen im In- und Ausland, die man für intelligent hält und die es auf ihrem Gebiet auch sind, verblüffen einen stets aufs neue mit einer gewissen Sympathie für die angeblichen Leistungen des „Dicken“.

Der andere Irrtum des Schriftstellers Günter Grass betrifft die Dauer deutscher Zweistaatlichkeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Politische Kultur und Unkultur der Bundesrepublik Deutschland läßt sich in dieser Anthologie des „Politikers“ Günter Grass über drei Jahrzehnte hinweg sehr gut verfolgen: Die sechziger, siebziger und die achtziger Jahre unseres Jahrhunderts sind höchstwahrscheinlich nirgendwo so unverkrampft wiedergegeben wie hier. Einige Stichworte mögen für den Zeitgenossen genügen: der Mauerbau von 1961, Grass kam gerade von einem längeren Paris-Aufenthalt zurück, Brandt als „Regierender“ von Berlin, pardon: West-Berlin, die Realität des anderen Berlins, das sich auf seinen Autobahnschildern immer als „Hauptstadt“ präsentierte, nichtsahnend, daß das ganze Berlin in historisch kürzester Zeit zur Hauptstadt eines zumindest äußerlich geeinten Deutschlands werden sollte. Die Kämpfe um die Mitbestimmung in den Betrieben, der falsche „Makel“ des Emigranten Brandt, das bis heute ungelöste Problem deutscher „Normalität“ nach Auschwitz, die ungebrochene Tragik der sozialistischen Bewegungen, reformistisch contra revolutionär oder gar, als Inkarnation des Schreckens: real-sozialistisch.

Auf der anderen Seite das dumpfe Beharren der Ewiggestrigen mit allen Folgen bis heute, Entstehen der Militärpotentiale in Ost und West, fragwürdige Fähigkeit der Kapitalisten im Westen und der Funktionäre im Osten, daraus „Kapital“ zu schlagen, all dies bringt uns der 1927 in Danzig Geborene nahe. Auch wenn seine „Rede“, bedingt durch die Wiederholung, durch die Konzentration des Buches auf den „Wahlhelfer“ Günter Grass, manchmal ein wenig zäh wird, auf den einen oder anderen Beitrag hätte man verzichten können, so handelt es sich insgesamt für jeden politisch Interessierten um eine spannende und sogar aufrüttelnde Lektüre. Durchmißt man lesend diese drei Jahrzehnte, so fragt man sich nicht ohne Entsetzen, ob die Amerikanisierung unseres Staates so weitergehen soll und muß?

Eindeutige Verschlechterungen im Gesundheitswesen, eine fast gelähmte Intelligenz, Jugend ohne Ziel aber in großer Zahl, was die Arbeitslosen unter ihnen angeht, traurige Bilanzen des sogenannten Nord-Süd-Konflikts, der aber begrifflich nur eine ungebremste Ausbeuter-Mentalität kaschieren will, ist dies tatsächlich die Perspektive des ausgehenden Jahrhunderts und Jahrtausends? Vor kurzem war zu lesen, daß die Feiern zur Jahrtausend-Wende Wochen oder gar Monate dauern sollen, „hierzulande“. Wie dumpf und instinktlos müssen deutsche Politiker sein, wenn sie dies aktiv mitgestalten wollen? Das Jahr 2000 ist doch nichts als eine tote Zahl, die uns nicht einmal Gutes verheißt: 2000 Jahre seit der Geburt eines jüdischen Kindes, das nicht einmal sehr angepaßt war, und dessen Volk wir Deutsche unlängst zum Museumsgegenstand machen wollten. Günter Grass' Reden und Aufsätze zum Thema Sozialdemokratie sind auf sehr sympathische Weise gekennzeichnet von Distanz und Nähe zur Politik: Distanz zur berüchtigten „Vollmundigkei“ der Politikerreden und anschauliche Nähe zu den Alltagsproblemen der Politik. Grass ist „brandaktuell“ in Fragestellungen, die zwar durch den kapitalistischen Alltag erledigt scheinen, die Frage nach der Notwendigkeit von Privatfernsehen zum Beispiel, die aber durch denselben jeden Tag aufs neue leidvoll erlebten Fernsehalltag immer wieder berechtigt sind.

Zum guten Ende noch ein Zitat aus der Grass'schen Rede im Landtagswahlkampf Baden-Württemberg 1980, mit dem Titel „Orwells Jahrzehnt I“: „Als Schriftsteller habe ich erfahren, wie tragfähig sich besonders die Literatur zwischen den beiden deutschen Staaten bewiesen hat. Ausgerechnet sie, die vielgeschmähte, die angeblich so zersetzende, die hier verlachte, dort auf das Wort Zensur gereimte Literatur hat sich durch keine Mauer aus- oder einsperren lassen: Sie ist gesamtdeutsch geblieben. Mehr noch: Die Wechselbeziehung zwischen den beiden deutschen Literaturen hat in drei Jahrzehnten anfangs unmerklich, wie gegen eigene Absicht, später dennoch ein gesamtdeutsches Dach entstehen lassen, unter dem sich leben ließe. In zwei deutschen Staaten einer Kulturnation.“

Heute, fast zwanzig Jahre nach diesen Grass'schen Sätzen, wissen wir nur wenig mehr, wir können feststellen, daß sich das Herstellen einer Kulturnation nicht so leicht bewerkstelligen läßt wie der Vollzug einer äußeren politischen Einheit. Günter Grass' Lektionen bleiben mehr als lesenswert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite