Eine Rezension von Helmut Müller-Enbergs

Das „Manifest“: Politischer Sprengstoff

Dominik Geppert: Störmanöver
Das „Manifest der Opposition“ und die Schließung des Ost-Berliner
„Spiegel“-Büros im Januar 1978.
Ch. Links Verlag, Berlin 1966, 206 S.

Als der „Spiegel“ im Januar 1978 das „Manifest des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands“ veröffentlichte, löste es zahlreiche Irritationen und heftige Spekulationen über seine Intention und Herkunft aus. Das dreißigseitige Manuskript enthielt scharfe Angriffe gegen den DDR-Sozialismus und die SED-Führung. Die anonymen Verfasser, lediglich als mittlere und leitende SED-Funktionäre ausgewiesen, trugen ihre Kritik aus eurokommunistischer, nationaler und sozialdemokratischer Warte vor. Ihr „Manifest“ entpuppte sich als politischer Sprengstoff und zwang die SED-Führung zu Reaktionen, auch im Bundestag wurde es leidenschaftlich erörtert. Die Einordnung des „Manifests“ bereitete trotz intensiver Diskussion stets Schwierigkeiten: Stand es für DDR-Opposition? Oder handelte es sich um eine nachrichtendienstliche Operation? Von wem kam sie, und gegen wen richtete sie sich? Gegen die Entspannungspolitik? Gegen die SED-Führung und Erich Honecker? Oder gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt? Oder sollte in der Folge die zunehmend kritischer werdende DDR-Berichterstattung bundesdeutscher Medien diszipliniert werden?

Dominik Geppert, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte und Internationale Beziehungen der Freien Universität Berlin, nahm sich dieser Fragen in einer Studie an. Schon der Titel Störmanöver, den der 26jährige Historiker seinem Buch gab, beschreibt treffend die Wahrnehmung dieses „Manifests“ durch die politische Klasse in Ost und West. Denn für ein solches hielt es Bundeskanzler Helmut Schmidt hinsichtlich der Entspannungspolitik (S. 103). Die SED-Führung mutmaßte in dem „elenden Machwerk“ eine Aktion des Bundesnachrichtendienstes (S. 8). Andere vermuteten die Urheber in der MfS-Hauptverwaltung A (Aufklärung, HVA), die eine „aktive Maßnahme“ gegen SED-Chef Erich Honecker lanciert hätte (S. 10). Geppert ging all diesen Thesen auf den Grund, sichtete Akten von SED und MfS, und sprach mit Zeitzeugen. Zügig und eloquent entwirft er das innen- und außenpolitische Panorama in Deutschland am Ende der siebziger Jahre: die zunehmende Kritik an Honeckers Führung, innen- und außenpolitische Spannungen, die ungelöste deutsche Frage, der problematische Umgang der DDR mit westlichen Korrespondenten und der Opposition im eigenen Land, und die in der Bundesrepublik umstrittene Entspannungspolitik. In diese politische Landschaft bettet er das „Manifest“ ein und vollzieht das von ihm ausgegangene Beben und seine Eindämmung durch Sozialdemokraten und Kommunisten minutiös nach. Gepperts Fazit: Das „Manifest“ war eine „hellsichtige Prophezeiung des Untergangs der DDR“ (S. 159) durch die „parteiinterne Opposition“ (S. 151).

Dennoch legt man das lesens- und empfehlenswerte Buch unzufrieden aus der Hand: Zwar hat Geppert zu Recht den Hauptprotagonisten Hermann von Berg als Mitverfasser und Übermittler des „Manifests“ in den Mittelpunkt gestellt, doch der Frage, ob er tatsächlich ein selbständig agierender Akteur oder inoffizieller Auftragnehmer war, zu wenig Beachtung geschenkt. Von Berg war immerhin ab 1962 inoffizieller Mitarbeiter der HVA gewesen, was trotz vorliegender Verpflichtungserklärung für Geppert noch „strittig“ ist und von Hermann von Berg bestritten wird (S. 61). Immerhin hatte von Berg mit dem HVA-Leiter Markus Wolf direkte Gespräche über die Interessen des Nachrichtendienstes geführt; seine zahlreichen Kontakte zu westlichen Journalisten und Politikern seien stets mit der HVA abgestimmt gewesen. Ende 1977 warnte ihn sein „Freund“ Rolf Wagenbreth, er könne von Journalisten „mißbraucht“ werden. Wagenbreth war bei der HVA-Abteilung X zuständig für „aktive Maßnahmen“ (also Desinformation) und behielt unter diesem Gesichtspunkt westliche Journalisten im Auge.1 Von Berg, der das „Manifest“ dem „Spiegel“-Journalisten Ulrich Schwarz diktiert hatte, verfügte also noch 15 Jahre nach seiner Verpflichtung über MfS-Kontakte, die im übrigen von Markus Wolf sehr aufmerksam verfolgt wurden. Es ist also nicht überraschend, wenn zwei ehemalige Mitarbeiter der HVA-Abteilung X andeuteten, das MfS könnte Interesse an der Veröffentlichung des „Manifests“ gehabt haben.2 Denn bis Ende 1977 war die HVA politisch gehalten, gegen die störende „Spiegel“-Redaktion in der DDR wirksam vorzugehen (S. 74). Infolge der „Manifest“-Veröffentlichung mußte das Magazin sein Ost-Berliner Redaktionsbüro schließen. Daß sich über diesen „Erfolg“ hinaus die Großwetterlage verdüstern würde, war anfangs sicher nicht erwartet worden. Wolf leugnete zwar gegenüber MfS-Minister Erich Mielke und auch noch nach 1989 eine Beteiligung der HVA am „Manifest“, gleichwohl deckte sie von Berg im Jahre 1978 vor dem MfS-Untersuchungsorgan, das sich vergeblich mühte, ihn zu überführen. Die HVA zeigte sich sogar gegenüber dem selbstverständlichen Wunsch der Untersuchenden, nähere Informationen (etwa die IM-Akte) zu erhalten, oder an der Rekonstruktion mitzuwirken, außerordentlich spröde; sie ließ sich nicht in die Karten sehen. - Die meisten dieser Gesichtspunkte werden von Geppert genannt; er hält dennoch einen ostdeutschen oder sowjetischen Nachrichtendienst-Hintergrund für spekulativ (S. 130).

Dominik Geppert hat eine wichtige Lücke in der Forschung zur DDR-Opposition geschlossen. Eine endgültige Arbeit über das „Manifest“ wird jedoch erst unter Berücksichtigung russischer Unterlagen möglich sein. Bis dahin ist diese Studie das Standardwerk zum Thema.



1 Andreas Förster: Ein Universitätsprofessor wird entführt, in:
Berliner Zeitung vom 16. 5. 1995;
ders.: Was Euch helfen würde, wäre ein richtiger Skandal, in:
ebenda vom 17. 5. 1995;
ders.: Die Kohl-Regierung setzt auf die Stabilisierung der DDR, in:
ebenda vom 18. 5. 1995.
2 Günter Bohnsack/Herbert Brehmer: Auftrag Irreführung. Wie die Stasi Politik im Westen machte, Hamburg 1992, S. 1


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
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