Eine Rezension von Birgit Dahlke

Ikarus im Hinterhof

Günter Feist/Eckhart Gillen/Beatrice Vierneisel (Hrsg.):
Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990
Aufsätze, Berichte, Materialien.
DuMont Buchverlag, Köln 1996, 916 S.

„Im Hinterhof kann man nicht fliegen lernen, aber wir mußten im Hinterhof fliegen lernen und dann sind wir auch geflogen.“ (Bernhard Heisig im Interview mit Lutz Dammbeck am 2. 3. 1995, geführt für seinen Film Dürers Erben, 1996, MDR/arte) - Die Vorderfront des 900-Seiten-Wälzers ziert die Montage aus einer historischen Aufnahme des Frankfurter Tores an der Berliner Stalinallee mit den um 1953 von Hermann Henselmann erbauten Turmhäusern und einem Gemälde von Via Lewandowsky mit dem Titel: Ikarus oder Übermut tut selten gut von 1988.

Zwischen Utopie und Realität suchen die HerausgeberInnen der materialreichen Dokumentation die widersprüchlichen Schaffensbedingungen für Kunst und KünstlerInnen in fünfundvierzig Jahren nachzuzeichnen, Differenzierung sichtbar zu machen, Biographien gerecht zu werden, monolithische Bilder von „der DDR-Kunst“ in Frage zu stellen. Dabei machen die 38 AutorInnen aus Ost und West den historischen Bruch 1989/90 bewußt zu ihrem Ausgangspunkt: „Fakten wurden überprüfbar, Annahmen verifizierbar, so manches wurde zum ersten Mal öffentlich“, heißt es in der Einleitung. Und so werden in den meisten Aufsätzen neu zugängliche Quellen aus verschiedenen Archiven präsentiert und eingeordnet, mit persönlichen Erinnerungen von ZeitzeugInnen konfrontiert. Die sachkundigen Beiträge widmen sich beispielhaften Vorgängen, ausgewählten Persönlichkeiten, verschiedensten Kunstregionen und -bereichen.

Methodisch interessant ist die Gliederung des Bandes, in der die HerausgeberInnen nicht zuletzt auch ein Beispiel in zweierlei Hinsicht geben: dafür, wie Kunstgeschichte überhaupt geschrieben und dafür, wie DDR-Kultur- und Kunstgeschichte erforscht werden kann. Neben systematisierenden Aufsätzen zur Arbeitssituation des „entmündigten“ Künstlers (Eckhart Gillen), der Programmatik einer „sozialistischen deutschen Nationalkultur“ (Rüdiger Thomas), dem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis des kulturpolitischen Führungsanspruchs der SED (Günter Feist), dem Phänomen der Auftragskunst (Bärbel Mann) stehen Institutionsgeschichten der Kulturabteilung des ZK der SED (Beatrice Vierneisel), des Ministeriums für Kultur und seiner Vorläufer (Angelika Reimer), des Verbandes Bildender Künstler (Michael Krejsa, Ursel Wolf) und Studien zu paradigmatischen Vorgängen wie der Formalismusdebatte, der Barlach-Ausstellung 1951/52 oder dem X. Kongreß des Verbandes Bildender Künstler 1988. Anhand der konfliktreichen Geschichte der Kunsthochschule Berlin-Weißensee in ihrem ersten Jahrzehnt (Hiltrud Ebert) wird kulturpolitische Praxis auf der Alltagsebene vorstellbar.

Überhaupt entgehen die HerausgeberInnen der Dokumentation der noch immer beschrittenen Sackgasse, die Kultur-, Literatur- und Kunst-Geschichte der DDR vorrangig „von oben“, aus der Perspektive der kulturpolitischen Verlautbarungen zu schreiben. Durch die Auswahl der Themen wird sichtbar, auf welch wechselhaften Wegen Beschlüsse von oben unten umgesetzt, entschärft, auch boykottiert oder sogar radikalisiert wurden. Geschichten einzelner Galerien, Künstlergruppen, Bewegungen und Projekte sowie Aufsätze über Strukturen der Nachwuchsförderung, der staatlich geförderten und zugleich kontrollierten Kulturarbeit in Betrieben und der eigenständigen kulturellen Praxis in privaten Zirkeln zeigen die Gleichzeitigkeit von zum Teil unabhängig voneinander verlaufenden Prozessen auf engstem Raum. So trifft man beim Durchstöbern des Wälzers sowohl auf eine eigenartige Parallelität von Ereignissen und strukturell ähnlich verlaufenden Vorgängen, aber auch auf äußerst widersprüchliche Entscheidungen zu ein und derselben Zeit an unterschiedlichen Orten oder auf unterschiedlichen Ebenen.

Durch Beiträge zu zentralen wie dezentralen Kunstregionen, nebeneinander existierenden Strukturen und Ausstellungspraxen (wie z. B. öffentliche Kunstausstellungen und „private“ Wohngalerien), dem kulturellen Leben in Großstädten wie Dresden, Leipzig, Halle oder Berlin, aber eben auch in der Region Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern wird die Vieldimensionalität von Kunst in der DDR nicht nur behauptet, sondern dokumentiert. Chronologische und systematische Überblicksdarstellungen und persönliche Erinnerungen von Galeristen, Architekten, Malern oder Kulturpolitikern werden gegen- und nebeneinander gestellt, detaillierte Quellenangaben und genaue Datierungen in den leserfreundlich neben dem Text angeordneten Fußnoten machen Prozesse des Umdenkens (nicht selten nach 1989 auch Umdeutens), des Scheiterns, aber auch des kraftvollen Wahrens der eigenen Integrität sichtbar. Der ausführliche und genau recherchierte biographische Anhang ermöglicht einen eigenen Zugang zur DDR-Kunstgeschichte über die Soziologie der an ihr Beteiligten. Immense biographische Brüche werden ebenso deutlich wie das unterschiedliche kulturelle Kapital bürgerlich-humanistisch Gebildeter einerseits und proletarischer Autodidakten andererseits, die den Kader-Stamm der neuen Elite bildeten. (Warum Künstlerinnen ein weiteres Mal einerseits vernachlässigt und andererseits in einem Sonderkapitelchen behandelt werden müssen - nur sie haben ein Geschlecht? - ist mir unklar.)

Mit besonderem Interesse habe ich sämtliche Beiträge zu Inszenierungen im öffentlichen Raum gelesen. Träume von einer neuen, demokratischen Architektur und Stadtplanung prallten unsanft mit Inszenierungen der Macht von symbolischer Gewalt zusammen, beides prägte den Lebensalltag aller DDR-BürgerInnen entscheidend. Die 50er-Jahre-Ikonographie der Stalinallee (Paul Thiel) wird ebenso unterhaltsam diskutiert wie die Geschichte des Fernsehturms (Bruno Flierl), des Berliner Thälmann-Denkmals (Thomas Flierl) oder das widersprüchliche Leben und Arbeiten des Star-Architekten der DDR Hermann Henselmann. Wobei im letzten Falle der Autor des Aufsatzes, Bruno Flierl, zugleich einen Teil seiner eigenen Biographie auf eine beeindruckend souveräne Weise erzählt.

Der wuchtige Band wird StudentInnen und WissenschaftlerInnen, LehrerInnen und SchülerInnen als Kompendium der DDR-Kunstgeschichte dienen, als Archiv und Geschichtensammlung, als Abriß komplizierter Biographien von DDR-Intellektuellen, als Orientierungshilfe und Anregung zum Fragenstellen. Je neugieriger eine solche Auffächerung von historischen Fakten, Daten, Vorgängen und Personen in Wort und Bild macht, um so deutlicher markiert sie eine Leerstelle: Es ist Zeit, den historischen Einschnitt von 1989 nicht ausschließlich zum Anlaß einer Bilanz der DDR-(Kunst)geschichte zu nehmen. Auch die Geschichte der alten BRD ist 1989 zu Ende gegangen. Wo bleibt ein westdeutsches Pendant?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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