Eine Rezension von Klaus Zierer

Ein „repräsentatives“ Deutschland-Buch

Deutschland. Germany. L'Allemagne
Einleitung von/Introduction by/Introduction par Helmut Schmidt.
Ellert & Richter Verlag, Hamburg 1996, 376 S.

Daß Deutschland ein Land mit viel Schönheit in der Natur und in seiner Architektur ist, wird dem Betrachter dieses Buches in 350 prächtigen Farbfotos von den Dünen auf den Nordfriesischen Inseln, der Hallig Langeneß und dem Altfriesischen Haus in Keitum/Sylt über die Drosselgasse von Rüdesheim, die Schloßkirche zu Wittenberg, das Leipziger Rathaus, den Dresdner Zwinger und die Neckarbrücke mit Stadtansicht von Heidelberg bis hin zum Gipfel der Zugspitze, der Wallfahrtskirche St. Koloman vor dem Panaroma der Allgäuer Alpen und dem Tatzelwurm-Wasserfall in der Nähe des Wendelsteins auf Schritt und Tritt zur Gewißheit.

Doch das „repräsentative“ Deutschland-Buch, das der Hamburger Ellert & Richter Verlag dreisprachig vorgelegt hat, blieb 6 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht allein auf die Wiedergabe von Naturschönheit und interessanter Architektur beschränkt. „Ein umfassendes Porträt der Bundesrepublik Deutschland“ - reich bebildert und prächtig anzusehen - sollte nach Maßgabe seiner Herausgeber vorgelegt werden. Um den Marktwert zu erhöhen, wurde kein Geringerer als Altbundeskanzler Helmut Schmidt gewonnen, die Einleitung zu verfassen.

„Wer die Politik, die Wirtschaft, die Kultur der Deutschen verstehen will, der muß die Bundesländer kennen! Das gilt für unsere Nachbarn, die den vorliegenden Band in drei Sprachen lesen können. Es gilt aber auch für uns Deutsche selbst. Denn von der seelischen Vereinigung unserer Nation sind wir noch weit entfernt, ebenso von der vollständigen wirtschaftlichen Vereinigung“ (S. 11), lauten Kernsätze seines kurzen, prägnanten geschichtlichen und politischen Überblicks über deutsche Entwicklung seit Goethes Zeiten. Der Schwerpunkt seiner Betrachtung liegt auf der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik und der großen politischen Verantwortung, die der Staat mit den meisten Nachbarn im Zentrum des europäischen Kontinents für heutige und künftige Entwicklungen trägt: „Nur ein demokratisches Deutschland wird das Vertrauen unserer Nachbarn finden. Nur wenn wir Deutschen im eigenen Vaterland Bund und Länder im inneren Gleichgewicht halten, werden wir unserer außenpolitischen Verantwortung gerecht werden und wirksam auf ein geeintes Europa hinarbeiten können.“ (S. 11) Warum in der Einleitung der föderalistische Charakter der Bundesrepublik so betont und die zentralistische Politik-Ebene so rigoros ausgeblendet wird, bleibt unklar. Wäre nicht eine dialektischere Darstellung beider überzeugender gewesen?

16 Autoren stellen die Bundesländer im Detail vor: Carl Ingwer Johannsen Schleswig-Holstein. Das farbenreiche Land im Norden; Anna Brenken Hamburg. Ein Hamburger beugt sich nicht; Goetz Buchholz Niedersachsen. Land im Wandel - Wind of Change; Rainer Mammen Bremen. Im Armenhaus lachen die Hühner; Claus B. Schröder Mecklenburg-Vorpommern. Die Verspätung der mecklenburgischen Seele; Rolf Schneider Brandenburg. Märkische Heide, märkischer Sand; Günter Kunert Berlin. Der „richtige“ Berliner; Heinz Kruschel Sachsen-Anhalt. Man muß nur sehen und wissen; Roland Günter Nordrhein-Westfalen. Ein modernes Forum; Wolfgang Boller Rheinland-Pfalz. Wälder, Wein und Zwibbelkuche; Ludwig Harig Saarland. Urweiler Elegie; Jutta Stössinger Hessen. Hessischer Wildwuchs; Matthias Biskupek Thüringen. Das Mosaik im Mosaik im Mosaik; Edgar Sebastian Hasse Sachsen. Die Sachsen - Menschen, Mundart, Mentalität; Otto Borst Baden-Württemberg. Zwei Namen, ein Volk; Thomas A. Merk Bayern. Der störrische Süden.

Die Verfasser der Länder-Beiträge hatten 3 Aufgaben zu lösen: Das Wichtigste aus der Geschichte und Kulturgeschichte des jeweiligen Bundeslandes zu vermitteln, Berühmtheiten des Territoriums vorzustellen, Besonderheiten seiner Natur und Eigentümlichkeiten seiner Bevölkerung, die sich bis heute erhalten haben, möglichst „einladend“ zu beschreiben. Das ist ihnen insgesamt gut, oft auch mit überzeugender persönlicher Handschrift gelungen und macht zu einem wesentlichen Teil den Reiz des Buches aus.

Demgegenüber geriet jedoch die Dynamik des Wiedervereinigungsprozesses seit dem 3. Oktober 1990 sowohl in ihrer nationalen Dimension als auch in ihren Auswirkungen in den alten und neuen Bundesländern viel zu kurz; die anstehenden Probleme wurden einfach weitestgehend ausgeklammert. Eigentlich schade, weil damit etliche Chancen vergeben wurden, das heutige Deutschland noch prägnanter, vor allem auch realistischer in seiner historischen Umbruchsituation und politischen Verantwortung im europäischen Einigungsprozeß darzustellen. Aber das hätte sicher wohl das gebotene Bild von einem gut zu verkaufenden Bilderbuch-Deutschland gestört.

Ein kurzer Anhang liefert interessierten Deutschen und ausländischen Touristen einige stichhaltige Daten über Fläche, Einwohnerzahl, Hauptstädte, größere Städte, Geographisches und Geschichtliches der 16 deutschen Bundesländer. Ein Autorenverzeichnis, Ortsregister, Bildnachweis und eine Karte runden den Charakter des Buches ab.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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