Eine Rezension von Sabine Graßmann

Der Osten ist trotzig, und den Westen gibt es nicht mehr

Helmut Böttiger: Ostzeit/Westzeit
Aufbrüche einer neuen Kultur.
Luchterhand-Literaturverlag, München 1996, 157 S.

„Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit“ - ein Satz, von unbekannter Hand auf eine Wand geschrieben, in der Kleinen Alexanderstraße in Berlin-Mitte. Böttiger hat ihn entdeckt und der Nachwelt erhalten, wie auch jene Reklame auf einer alten Brandmauer in der Friedrichstraße, die erstaunlich lange inmitten emporstrebender Stahlskelette westlicher Renommierbauten für sowjetische Eisenbahnen warb „Reisen von Berlin nach Moskau in bequemen Reisewagen - Interessant und pünktlich“. Beides existiert inzwischen nicht mehr.

„Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit“ - das meint ein knappes Jahr anarchischer, fast herrschaftsloser Zeit zwischen Berliner Maueröffnung und deutscher Vereinigung, eine Zeit des Aufbruchs, in der alles noch möglich schien und kaum jemand recht ahnte, was da noch kommen würde.

Helmut Böttiger (Jahrgang 56), Kulturkorrespondent der „Frankfurter Rundschau“, berichtet aus Berlin. Als Flaneur durchstreift er die Hauptstadt, erspürt die Aufbrüche einer neuen Kultur. Wo sonst als hier prallen auch die Gegensätze so ungeschützt, direkt aufeinander. Die insularische Off-Szene Kreuzbergs, die dort seit den siebziger Jahren im Schatten der Mauer erblühte, zerfällt allmählich, setzt sich nach Mitte und Prenzlauer Berg ab, den eigentlichen Zentren neuen Lebensgefühls, vermischt sich dort mit dem östlichen Underground. Da wächst nicht zusammen, was zusammengehört, „da geht etwas ineinander über, was so nie als zusammengehörig gedacht war“.

Der Journalist Böttiger kennt den Osten noch aus der Zeit vor dem Mauerfall (promovierte über DDR-Literatur). Dieser West-Mann gebärdet sich denn auch nicht als Sieger, er hat die Ost-Mentalität quasi verinnerlicht. So kann er auch Umbrüche und Stagnation wie ein Seismograph orten. Aber vielleicht ist er seiner Zeit weit voraus, wenn er meint: „Der Westen hat zwar seine Fühler ausgestreckt, hat seine Architektur und Konsumangebote geschickt, aber er ist unmerklich zum Osten geworden ... Die DDR ist nicht untergegangen. Man hat ihr nur einen weiteren Milliardenkredit gegeben.“ So schön es sich liest, und man möchte es als Ex-DDR'ler ja auch durchaus glauben - manche mögen es sich sogar wünschen -, so vage scheint es. Und je weiter die Jahre ins Land gehen, desto unwahrscheinlicher erscheint seine Behauptung.

Aber das tut seinem Buch keinen Abbruch. Mit Vergnügen habe ich gelesen, wie in einer ehemals Ostberliner Kaufhalle, die zum westlichen Lebensmittelmarkt umfunktioniert wurde, französischer Käse zum Sonderpreis bis kurz vorm Verfallsdatum keine Abnehmer fand und dann durch bulgarisches „Letscho“ ersetzt wurde, die zu DDR-Zeiten beliebte und vor allem verfügbare Gemüsekonserve. „In den Gaststätten gab es deswegen immer Letschosteak und Letschoschnitzel ...“ (Was Böttiger vielleicht nicht wußte, die eigentliche Letscho-Generation, die heute über 50jährigen, kauften jenes Glas Paprikaschoten in Tomatenmark noch ganz normal im Gemüse-Konsum um die Ecke zu zivilen Preisen, bevor es zum exquisiten Delikat-Produkt avancierte.) „Der DDR-Bürger läßt sich nicht so leicht etwas Fremdes aufzwingen“, meint der Autor. Na ja ... (?)!

Dennoch verblüffend, wie Böttiger durch genaue Beobachtung des Alltäglichen und mit erzählerischer Liebe fürs Detail die Veränderungen der deutsch-deutschen Mentalität registriert und ausdeutet. Mit der abgelebten DDR hat die jetzige Atmosphäre kaum noch etwas zu tun, mit der erstarrten Bundesrepublik erst recht nicht. Da entsteht Neues, das erst noch definiert sein will. Der Osten ist untergegangen, das hat Individualität gefördert, der Westen hat sich seit der Adenauer-Ära nur in sich selbst entwickelt, Kollektivismus ist spürbar. „Die Ich-Auflösung im Westen und das Nicht-Ich der DDR verbanden sich zur deutschen Einheit.“ In seinen brillant geschriebenen Essays vermittelt Helmut Böttiger sowohl die Stimmung der DDR-Künstlerszene bei einem Fest in der „Kulturbrauerei“ im Prenzlauer Berg als auch die Melancholie des Westberliner Kulturmilieus bei der Feier zum zwanzigjährigen Bestehen des Rotbuch-Verlages in Neukölln.

„Eine tragische und eine ironische Gesellschaft stoßen aufeinander. Eine ernste und tiefe auf der einen Seite, und auf der anderen eine, die vor allem die Oberfläche kultiviert. Beide sind deutsch.“ Bei seinen Streifzügen durch die Kneipen im Prenzlauer Berg beobachtet er, wie Ost und West sich durchdringen. „Wo anfangs die typischen Ostintellektuellen, die Brechtkopien und die Vollbärtigen, ihre Piroggen bestellten, zeigen sich jetzt längst die zugereisten Düsseldorferinnen im Designerkleid.“

In Berlin, so der Autor, müssen Ost und West zwangsläufig Notiz voneinander nehmen, es gibt erste Anzeichen dafür „wie die Post-DDR unter den neuen Gegebenheiten mutiert, wie hier ,Aktivität‘ und ,Individualität‘ entsteht, ohne deren bürgerliche Formen zu meinen. In Westberlin merkt man schon, daß das auch für den Westen Veränderungen mit sich bringt. Nur die Westdeutschen merken noch nichts.“ Sie versuchen immer noch, das westliche Selbstverständnis auf den Osten zu übertragen. Der aber zeigt sich trotzig. Er widmet den Westen um, während der sich noch ganz sicher fühlt.

„Und plötzlich gibt es den Westen gar nicht mehr - ein ästhetischer Vorschein deutscher Zukunft.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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